Eisleben Eisleben: "Singvogel" trällert auf den Tischen
EISLEBEN/MZ. - "Hier fühle ich mich sauwohl, obwohl es manchmal ganz schön rau zugeht", bekennt er und zieht genüsslich an seiner Zigarette. Rauchen ist nämlich im "Singvogel" ausdrücklich erlaubt, die Nichtraucher müssen nach hinten in einen zweiten Gastraum, der vermutlich kaum genutzt wird.
Steffen, so heißt der stadtbekannte "Flattrich" mit Vornamen, war auch der erste Gast, den die heutige Wirtin Henrietta Walther zu Gesicht bekam, als sie am 26. Mai 1981 in der damaligen Konsum-Gaststätte zu arbeiten anfing. Er war freilich noch Jugendlicher und das Lokal hieß damals "Bräcklein". 30 Jahre ist das inzwischen her. Der "Flattrich" ist nicht nur der Kneipe treu geblieben. Auch mit der Wirtin verbinden ihn mittlerweile unzählige Geschichten, die sie gemeinsam erlebt haben.
"Oh ja, da hat manchmal die Luft gebrannt", räumt Henrietta Walther ein, die selbst kein Kind von Traurigkeit ist. Obwohl sie nach eigenem Bekunden nicht raucht und eher selten einen mittrinkt. Doch wenn jemand über die Strenge schlägt, dann ist mit ihr nicht gut Kirschen essen. "Man darf sich in diesem Metier nichts gefallen lassen", lautet ihre Devise.
Die gelernte Schneiderin hat es trotz der rauen Sitten schon immer ins Gastgewerbe gezogen. Doch zunächst hatte sie nach der Lehre auf der Abendschule noch ihren Industriekaufmann "gemacht" und wurde danach Sekretärin bei der Firma Kirsch. "Das war auch eine schöne Zeit", erinnert sie sich gern daran zurück.
Als der frühere Gastwirt Werner Ringleib zur Wendezeit aufhörte, kam ihre Chance. Sie übernahm vom Konsum, der auch nicht mehr lange existieren sollte, die Gaststätte. Und sie taufte sie auf "Singvogel" um. Der Anlass geht auf den alten Hausbesitzer zurück. Er führte eine Zeit lang auch die Kneipe und begrüßte jeden Gast mit den Worten: "Na du Singvogel!" Das hat sich eingebürgert. Was also lag für Henrietta Walther näher, als ihr neues Lokal danach zu benennen.
Wer die Gaststube betritt, dem fallen bei genauem Hinsehen manche Accessoires auf, die dem Namen des Lokals geschuldet sind. Auf den Tischen stehen Kerzenhalter und Aschenbecher, die mit einem Vogel verziert sind. Auch an der Garderobe ist ein Vogelmotiv eingearbeitet. Und zum Geburtstag im August hat sie einen neuen Keramikvogel geschenkt bekommen.
Die meisten Gäste kennen sich schon viele Jahre. Es ist fast wie in einer Familie. Und so passiert es nicht selten, dass der eine oder andere auch mal sein Herz ausschüttet. "Ich komme mir manchmal wie Mutter Theresa vor", sagt die eher resolut wirkende Wirtin. Eigentlich hat Henrietta Walther schon das Rentenalter erreicht, doch ihr Lokal möchte sie nicht missen. "Was soll ich den ganzen Tag zu Hause", meint sie. In ihrer Kneipe hat sie jeden Tag Leute um sich. Freilich, die Zeiten haben sich geändert. Früher sind viele Bergleute eingekehrt, auch Studenten der Ingenieurschule kamen oft vorbei, weil das Essen gut und billig war. Die Küche, die im hinteren Teil des alten Gemäuers aus dem 16. Jahrhundert lag, ist lange abgerissen. Mittlerweile hat ein Engländer die Immobilie gekauft. Auch mit der Tageskasse traut sie sich schon lange nicht mehr allein nach Hause, obwohl das nur wenige Schritte entfernt liegt. "Das ist zu gefährlich", weiß sie. Deshalb warten der "Flattrich" oder andere Stammgäste nach Kneipenschluss immer so lang auf der Straße, bis sie in ihrem Hausflur verschwunden ist.