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Bei Tutti-Frutti war es genug Bei Tutti-Frutti war es genug: Hettstedter Familie Ritter lebt in fernsehfreiem Alltag

Von Wolfram Bahn 12.11.2016, 17:00
Die Ritters und ein Fernseher -  das passt nur für diesen  fotografischen Spaß  zusammen.
Die Ritters und ein Fernseher -  das passt nur für diesen  fotografischen Spaß  zusammen. Montage/Schumann

Hettstedt - Wer sich in den vier Wänden von Angelika und Roland Ritter umschaut, kann eine Menge entdecken. Da stehen haufenweise Bücher in Regalen, an den Wänden hängen Drachenbilder und sogar eine vergoldete Wohnzimmeruhr aus DDR-Zeiten fällt ins Auge. Nur eines wird man in ihrer Wohnung in der Mozartstraße in Hettstedt nicht finden: einen Fernsehapparat. Seit dem 1. April 1991 leben die Eheleute in einer TV-freien Zone - und das ist kein verspäteter Aprilscherz.

Roland Ritter aus Hettstedt war einst TV-Junkie

„Mord- und Totschlag haben wir in der Realität genug. Da brauchen wir keinen Tatort, um noch mehr davon zu sehen“, umreißt der 63-jährige Roland Ritter einen der Gründe, sich aus der Fernseh-Nation „auszuklinken“. Dabei war der studierte Maschinenbauer früher ein regelrechter TV-Junkie. „Ohne Fernsehen konnte ich nicht leben, vor allem Sportsendungen ließ ich kaum ausfallen“, blickt er zurück.

Damals standen sogar zwei Fernsehgeräte in ihrer alten Genossenschaftswohnung in der Schubertstraße. Doch dann kam das Ende der DDR und die neue Zeit machte auch vor der Empfangstechnik nicht halt. Statt der Gemeinschaftsantennenanlage auf dem Dach des Plattenbaus sollten nun alle Wohnungen Kabelanschluss erhalten. „Angeblich hätten sich Mieter beschwert, dass die alte Anlage zu viel Strom fressen würde“, erinnert sich Ritter, der darüber nur den Kopf schütteln kann.

Für ihn und seine Frau war dies lediglich ein fadenscheiniger Vorwand, um einer Kabelfirma lukrative Einnahmen zu bescheren. Zwar war mit der höheren Gebühr auch der Empfang von mehr als einem Dutzend Sender verbunden. „Doch uns haben die fünf Programme vorher gereicht“, bekräftigt seine Frau Angelika. Aus Protest haben sie den angebotenen Kabelanschlussvertrag nicht unterschrieben - und das hatte Folgen, die ihr Leben bis heute bestimmen. Plötzlich war der Fernsehanschluss in ihrer Wohnung abgeklemmt. Und das, wo sie sich doch nach dem Mauerfall einen modernen Farbfernseher zugelegt hatten. Gekauft haben sie ihn in einem Supermarkt in Bayreuth, als sie einen „Westonkel“ besuchten. Und nun blieb die Mattscheibe dunkel. Anfangs allerdings noch nicht ganz.

Beim TV-Format „Tutti Frutti“ zogen die Ritters die Reißleine

Weil die neue Anlage so starke Signale aussendete, konnten sie in der Wohnung in der fünften Etage noch eine Zeit lang auch Privatsender wie RTL und SAT 1 empfangen. „Das hat uns aber eher den Rest gegeben“, meint Ritter. Als dann TV-Formate wie „Tutti Frutti“ mit halbnackten Frauen und Hugo Egon Balder über den Bildschirm flimmerten, zogen sie die Reißleine. Und als später auch dieser Kontakt abbrach, verweigerten sie sich völlig dem Fernsehgenuss.

Das fiel ihnen damals auch leicht, weil die Abkopplung von diesem Medium in den Sommer fiel und vor allem Roland Ritter in diesen Monaten immer im Schrebergarten viel zu tun hat. „Da blieb er meist bis es dunkel wurde“, so seine Frau. Nach dem Abendbrot und einem kurzen Gespräch sind die Eheleute dann ohnehin bald ins Bett gegangen.

Kino, Theater und Lesen - das machen die Ritters ohne TV

„Wir haben den Fernseher mit der Zeit überhaupt nicht mehr vermisst“, versichert Roland Ritter. Auch Szenen wie beim berühmten Loriot-Sketch vor dem kaputten Fernseher seien nicht vorgekommen, erzählt Angelika Ritter. Den legendären Wortwechsel zwischen dem Humoristen Vicco von Bülow und Evelyn Hamann kenne sie auch nicht aus dem TV-Programm, sondern von DVDs, die sie sich am Computerbildschirm anschauen.

Informationen kommen über das Radio oder die Zeitung

Und so sind ihnen nicht nur die technischen Umwälzungen vom Röhren- zum Flachbildschirm entgangen. Die Hettstedter Eheleute kennen auch alle bekannten TV-Serien und preisgekrönten Fernsehfilme nur vom Hörensagen. Und wenn wichtige Sportereignisse anliegen, hört Roland Ritter sie im Radio oder er liest darüber in der Mitteldeutschen Zeitung, die die beiden nicht missen möchten.

Den WM-Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft vor zwei Jahren in Rio hat der gelernte Dreher auch nicht am Bildschirm verfolgt. „Das interessiert mich nicht mehr, da geht es nur noch ums Geld“, winkt er ab. Da spielt er lieber mit seinen Freunden Volleyball. Entzugserscheinungen haben beide nach eigenem Bekunden nie durchlebt. Auch Langeweile würde bei ihnen ohne TV nicht aufkommen, sagt seine Frau, die als Ergotherapeutin in einer Eisleber Praxis arbeitet.

Die Eheleute, die seit über 43 Jahren verheiratet sind, reden viel miteinander. Sie gehen oft ins Kino und nach Eisleben ins Theater. Und beide lesen gern. Das Zimmer ihres Sohnes haben sie in eine kleine Bibliothek umgestaltet. Er hatte am 9. November 1989 seinen 18. Geburtstag gefeiert. Als ihr Sohn später auszog, bekam er den West-Farbfernseher geschenkt. „Wir brauchten ihn doch nicht mehr“, so Ritter. Überall in ihrer jetzigen Wohnung in der Mozartstraße liegen Magazine und Broschüren. Angelika Ritter beschäftigt sich gerade mit Wildkräutern. Ihr Mann schlägt sich nach einem Zeckenbiss seit Jahren mit Borreliose herum. „Über diese Krankheit will ich einfach mehr wissen“, sagt sie.

Angelika Ritter widmet sich intensiver der Kunst

Angelika Ritter hat sich schon eine ganze Weile der Malerei verschrieben. Sie war auch Mitglied im Kunstverein in Hettstedt. Bilder mit Drachenmotiven zieren bis heute die Wände. Und ihr Mann trägt immer Seidenkrawatten, die sie selbst bemalt hat. Damit taucht Roland Ritter zu jeder Kreistagssitzung auf. Die fernsehfreie Zeit füllt er mit politischem und gesellschaftlichem Engagement in Vereinen oder als Schöffe aus. Er sitzt auch im Stadtrat. Früher für die Grünen, die er mitbegründet hat im Mansfelder Land.

Nachdem er sich mit der neuen Führung des Kreisverbandes überworfen hatte, schloss er sich als Parteiloser der Linksfraktion an. Roland Ritter ist gefürchtet wegen seiner Akribie. Es gibt kein Protokoll, das er nicht kontrolliert. Und keinen Beschlussentwurf, den er nicht vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchforstet. „Ich habe Zeit und hocke nicht Stunden vor dem Fernseher“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Die neue Schrankwand haben sie extra ohne TV-Teil gekauft. „Verzicht ist mehr“, lautet ihr Lebensmotto. Das schließt auch die Ernährung ein. Denn beide sind mittlerweile überzeugte Vegetarier geworden.

Nur eines stößt ihnen mächtig auf: Obwohl sie nachweislich seit 25 Jahren nicht mehr fernsehen, müssen sie dafür GEZ-Gebühren zahlen. „Da haben wir keine Chance“, weiß Ritter. Dennoch schwören beide Stein und Bein: „Rückfällig werden wir auf keinen Fall.“ (mz)