Rennpferde und schnelle Schweine
DESSAU/MZ. - Kurz nach der Geburt verlor die Mutter den Verstand. Im Winter war der Vater erfroren.
"Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt", singen die Boxen am Dienstagabend. Dann schlakst er in den Altarraum. Winfried Glatzeder las in der Dessauer Marienkirche aus seiner im Aufbau-Verlag erschienen Autobiographie "Paul und ich". Bevor er in die unter Mithilfe von Manuela Runge fixierte Vergangenheit tauchte, erzählte Glatzeder von einer neuen Bühnen-Liaison mit Angelica Domröse. Das legendäre Defa-Paar spielt wieder eine Beziehungskiste, diesmal in der Komödie "Filumena" von Eduardo De Filippo.
Dann knarrt endlich das Eisenbett. Glatzeder liest. Das erste Kapitel fertigt seine Geburt ab, erzählt von den Großeltern, die alles, was möglich ist, auf einen Leiterwagen packen und ein "schreiendes Bündel mit dem Familiensilberbesteck in den stinkenden Windeln" oben drauf legen. Ankunft in Berlin. Nachdem Großvater sein Bauunternehmen in den Sand gesetzt hat, folgt eine für Gläubiger unerreichbare Nachkriegskindheit im Ostsektor der Stadt. Im neuen Deutschland geht Großvater gelegentlich auf Agitationsreisen und Winfried ins Kinderheim. "Bettnässer, Bettnässer", zweimal ruft die hänselnde Meute im Buch. Viermal ruft Glatzeder in der Kirche. Es dauert, bis er seine Mutter "im Gegenlicht der Nachmittagssonne" das erste Mal sieht. Sie riecht nach Kernseife und Desinfektionsmittel. Tuberkulose wurde diagnostiziert. Und dann kommen die Väter auf Zeit mit Glasaugen, Holzbeinen und richtige Väter anderer Kinder.
Das liest sich wie Kino. Diese Kindheit wird bündig, makaber und charmant hingeblättert, in lässiger Distanz zu allen Unwägbarkeiten. Für den ersten vagen Kontakt zur Schauspielerei sorgt eine Freundin der Großmutter, Anneliese Reppel. "Ich brauche nur einmal ins Mikrophon zu rülpsen, und schon habe ich hundert Mark verdient", sagt die Schauspielerin. Und Glatzeder macht kein Hehl aus seiner Lust auf Karriere. Die führt weg vom VEB Kühlautomat nach Babelsberg. Er spielt den Flieger Yang Sun an der Volksbühne. Dann verunglückt Ingrid Reschke, die Ulrich Plenzdorfs Buch verfilmen sollte, und Heiner Carow sucht seine Besetzung. So liegen Paul und Paula auf der Campingliege. Unsicher sei er an der Seite der Domröse. "Sie hat mich überrumpelt, nicht nur als Paul, sondern auch als Schauspieler." Das habe der Figur Authentizität verliehen.
Glatzeder geht vom "Regen in die Jauche", in den Westen. Das erste Drehbuch ist nicht so toll. Regisseur Peter Beauvais sagt: "Das ist kein Rennpferd, aber ein schnelles Schwein." Und das Buch ist locker zu reiten. Es endet mit der Inszenierung der eigenen Beerdigung, mit Shakespeares "Wie es euch gefällt", übersetzt von Heiner Müller: "Zahn los, Blick los, Geschmack los, alles los".