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Ermordete Syrerin in Dessau-Roßlau Ermordete Syrerin in Dessau-Roßlau: Die letzten Wochen von Rokstan

Von Steffen Brachert 05.10.2015, 15:33
Fotografiert für das Buchprojekt: Rokstan M. mit ihrem sehnlichsten Wunsch
Fotografiert für das Buchprojekt: Rokstan M. mit ihrem sehnlichsten Wunsch MZ Lizenz

Dessau-rosslau - Die letzte Nachricht vom Kurznachrichtendienst WhatsApp kam am Dienstag, dem 22. September. Was ist los? Meldest dich gar nicht mehr? Kann ich dir irgendwie helfen? Die Antwort hatte nur drei Worte. „Ich habe Probleme.“

Eike A. sitzt auf dem Dessauer Marktplatz, hat ein Laptop auf dem Schoß, sucht Bilder, öffnet Texte, sagt minutenlang gar nichts, schüttelt den Kopf, wischt eine Träne weg. „Ich hab geahnt, dass da was passiert.“

Immer wieder hatten A. und seine Frau kleine Nachrichten an Rokstan M., eine junge Syrerin, geschrieben. Zuletzt vergangenen Mittwoch. Am 30. September, 15.04 Uhr. „Es gab zwei blaue Häkchen“, sagt der Dessauer. Es ist bei WhatsApp das Zeichen dafür, dass diese Nachricht gelesen wurde. Mittwoch, 18.16 Uhr, war Rokstan M. das letzte Mal online. Freitag, 21.46 Uhr, verschicken Polizei und Staatsanwaltschaft eine Pressemitteilung. „Ermittlungen zum Verdacht eines Tötungsdeliktes“ ist die Überschrift. Die Info ist unkonkret, was Opfer und Tat angeht, aber konkret, was Täter und Motiv betrifft. „Es besteht der Verdacht, dass die Tat von einem nahen Angehörigen aus kulturellen Motiven verübt worden ist.“

Eike A. hatte Rokstan M. vor acht Wochen kennengelernt. Ein Zufall. Oder auch nicht? Der Dessauer hatte die ARD-Talkshow „Maischberger“ gesehen. Es ging um Flüchtlinge. Til Schweiger war zugeschaltet - und geriet mit CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer aneinander. „Sie gehen mir auf den Sack, echt“, schimpfte Schweiger, aufgebracht, fassungslos über die Arroganz Scheuers. „Es war der Moment“, erzählt A., „da beschloss ich, etwas zu tun.“

Eike A., 38, Künstler, Sänger, Maler, Autor. In Dessau kennt man ihn mit seiner Show als „Eike, The Voice of Elvis“. Er hat bei „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ mitgespielt. A. ruft Ende August bei der Til-Schweiger-Foundation an, überlegt, wie man helfen kann. Am Ende setzt er sich ins Auto, fährt einfach nach Dessau und geht ins Rathaus zur Ausländerbehörde. „Ich wollte die Schicksale der Flüchtlinge kennenlernen.“ Irgendwann steht Rokstan vor ihm. 20 Jahre. Syrerin. Seit knapp zwei Jahren in Deutschland lebend. „Rokstan konnte perfekt Deutsch. Alle Syrer in der Stadt kennen sie als Übersetzer.“

Buch-Idee nimmt Formen an

Rokstan wird As. Türöffner in Dessau. „Wir waren Freunde. Sie wollte zu uns in den Harz zum Grillen kommen“, berichtet der 38-Jährige Die Buch-Idee nimmt Formen an. Der Titel: „Freunde mitten in Deutschland.“ Eike A. will Geschichten erzählen. „Ich wollte den Flüchtlingen ein Gesicht geben.“

Irgendwann sitzt auch Rokstan vor ihm. Es wird ein seltsames Interview. Die 20-Jährige berichtet von ihrer Heimat, der Flucht vor zwei Jahren, der Ankunft in Dessau. Sie erzählt aber auch von ihrer Sorge, von ihrer Angst, vor der eigenen Familie. „Sie hat mir erzählt, dass sie in Syrien von drei Männern vergewaltigt wurde“, sagt A., holt das Interview raus, spielt die Audio-Datei ab. Ein beklemmender Moment. Als man die Stimme hört, ist Rokstan schon mindestens 24 Stunden tot.

Eike A. hatte sich am Freitag aus dem Harz nach Dessau aufgemacht. „Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Keiner wusste, wo Rokstan war, was mit ihr ist.“ A. fährt zum Schloßplatz, hofft auf ein Lebenszeichen aus ihrer Wohnung. Und der Dessauer fasst einen verrückten Plan. A. bastelt sich eine DWG-Mappe. Die Dessauer Wohnungsbaugesellschaft ist Dessau-Roßlaus größter Vermieter. A. tut Verbotenes. Es war ihm egal. „Ich habe mich als Mitarbeiter der DWG ausgegeben, um in Rokstans Wohnung zu kommen.“ Er schafft es tatsächlich. Die 20-Jährige ist nicht zu sehen. Dafür eine ältere Frau, die weint. Ist es die Oma, die trauert? Dutzende Gedanken sind da. Und: Panik.

Eike A. bekommt einen Tipp auf den „Küchengarten“, eine Kleingartensparte im Vorderen Tiergarten. „Die Familie sollte dort einen Garten haben.“ A. geht hin, spricht den Vereinschef an. Der zeigt ihm vier Gärten, die Syrer gepachtet haben. Von Rokstan keine Spur. A. wird immer verzweifelter. „Ich wusste irgendwann, dass das alles nichts mehr bringt.“

Anzeige liegt schon vor

A. geht am Freitag gegen 14 Uhr zur Polizei in die Wolfgangstraße. „Ich wollte eine Vermisstenanzeige stellen.“ Die aber liegt schon vor. Zehn Minuten nach seiner Ankunft wird der Dessauer zur Polizeidirektion in die Kühnauer Straße gefahren. „Die Polizei hat mir gesagt, es geht um Leib und Leben.“ Fünf Stunden sitzt A. bei der Polizei, erzählt seine Geschichte, zeigt Bilder, zitiert aus dem Interview. Als er gegen 19 Uhr die Polizeidirektion verlässt, ist Rokstan in der Gartensparte „Küchengarten“ gefunden. Tot. Ermordet.

„Hätte ich eher was tun können, was tun müssen?“ Es ist die Frage, die A. am Wochenende quält. Die Nachrichten überschlagen sich. A. liest jede Zeile. „Musste Sie sterben, weil sie einen westlichen Lebensstil lebte?“ So etwas würde ihn wütend und traurig machen.

Wer As. Interview mit Rokstan liest, stockt, erschreckt. Über die vielen schrecklichen Details. Auch aus der Familie. Der krebskranke Vater war zuerst nach Deutschland gekommen. Zur Behandlung. Die Familie wurde später nachgeholt. Rokstan hatte immer einen schweren Stand. Gab es schon Versuche, sie umzubringen? Hat sie eine Zeit lang in einem Frauenhaus in Bitterfeld-Wolfen gelebt? Es gibt viele Fragen. Stimmt das alles? Schwer zu sagen. Polizei und Staatsanwaltschaft werden das in den nächsten Tagen versuchen aufzuklären. Doch warum sollte die junge Frau lügen? Für das Foto im Buch bittet A. sie, einen Wunsch auf ein weißes Blatt Papier zu schreiben. Rokstans Wunsch war ein bescheidener. „Ich möchte wieder lachen.“

„Rokstan ist 20 Jahre alt und Kurdin. Sie stammt aus Nordsyrien. Sie hat überlebt.“ Es sollte der letzte Satz von As. Interviews sein. A. hatte es vor drei Wochen aufgeschrieben. Es ist noch komplett unredigiert. Doch schon vor drei Wochen hat der Dessauer einen Absatz eigener Eindrücke hinzugefügt.

„Rokstan hatte mich um einen Gefallen gebeten“, erzählt der Dessauer. „Ich sollte sie tot fotografieren.“ Um los zu kommen von ihrer Familie? „Ja.“ A. war schockiert. „Rokstan tut mir unendlich leid“, schreibt er in dem neuem letzten Satz des Interviews. „Ich wünsche Ihr, dass sie ihre Ruhe findet, um endlich irgendwo neu zu beginnen.“ Seit Freitagabend steht fest: Der Wunsch bleibt unerfüllt. (mz)