Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Unbeschwerte Wochen
DESSAU/MZ. - Die Zwergziegen wittern ihre Chance. Kaum sind die Menschen in dem Gehege, versuchen sie zu entkommen und stehen in der Schleuse. Violetta (10), Stefania (7), Vanessa (4) und Vitali (2) gucken ratlos. Aber guter Rat ist nicht teuer - mit ein wenig Futter für ein 10-Cent-Stück lässt sich die Ziegenschar wieder ins Streichelgehege zurücklocken. Die Kinder sind selig. Später wird Violetta sagen, dass die Ziegen ihr am besten im Tierpark gefallen haben.
Einen Tierpark, den gibt es nicht in ihrer russischen Heimatstadt Brjansk. Deshalb kommen die vier Kinder mit ihren Eltern Nina (27) und Alexander Kondrukow (35) in Dessau aus dem Staunen nicht mehr heraus. Überhaupt, erzählt Nina Kondrukowa, "wir freuen uns über alles, was wir sehen, was wir erleben. So etwas passiert doch nicht alle Tage."
So etwas - das ist der Besuch der sechsköpfigen Familie in Deutschland auf Einladung des Vereins "Hilfe für Tschernobylkinder in Brjansk", den Ljuba Schmidt ins Leben gerufen hatte. In Reuden hinter Zerbst hat der Verein mit dem ehemaligen Forstamt seit 2004 ein eigenes Quartier. Das soll zu einem Feriendomizil für benachteiligte Kinder und Jugendliche aus Brjansk werden. Jener Region, die einmal die Lebensmittelkammer von Moskau war, seit Tschernobyl jedoch zusehends verarmt. Obwohl im alten Forsthaus in den vergangenen sieben Jahren schon vieles um- und ausgebaut wurde, können noch keine großen Gruppen hier nächtigen. "Aber für kleine Gruppen haben wir die Erlaubnis", erklärt die Vereinsvorsitzende. Nun sollen hierhin regelmäßig kinderreiche Familien aus der Brjansker Region kommen, um sich zu erholen. Bei ihrem letzten Besuch in Russland hatte Schmidt eine Liste mit Vorschlägen erhalten. Vor einem Monat war die erste Familie da - mit drei eigenen und drei adoptierten Kindern. Die Familie von Nina und Alexander Kondrukow ist nun die zweite, die die drei Wochen Erholung genießt.
In Brjansk leben die Sechs in einer Zwei-Raum-Wohnung. Die junge Mutter ist Erzieherin von Beruf, aber wegen des jüngsten Sohnes zur Zeit noch zu Hause. Ihr Mann hat keine feste Arbeit, sondern geht "überall dorthin, wo er etwas findet", erzählt Nina Kondrukowa. Nun kann die Familie unbeschwerte Wochen in dem Haus am Wald in Reuden und in der Umgebung verleben und wird dabei von den Vereinsmitgliedern und anderen Helfern betreut.
Am Freitag begleitete z. B. Natalja Volger vom Schwabehaus-Verein die Familie im Tierpark. Für Volger, die selbst aus Russland stammt, eine Herzensangelegenheit. Genauso wie die Spendenaktionen, zu den denen der Schwabehausverein regelmäßig in der MZ aufruft. Die Sachspenden helfen den Menschen ungemein, weiß Volger. Aber auch über jede Geldspende ist der Tschernobylkinder-Hilfeverein froh, erzählt Hans-Peter Schmidt. Denn alles, was der Verein organisiert, ist nur mit Spendenhilfe möglich. Sehr wertvoll waren deshalb auch die 400 Euro, die Ute Birnbaum in der Gemeinde der Neuapostolischen Kirche Dessau gesammelt hatte. Birnbaum rührt regelmäßig die Werbetrommel für den Verein - ob bei Aktionen in der Gemeinde, im Turnverein oder in Einkaufszentren.
Für Ljuba Schmidt ist das eine wertvolle Hilfe. Zudem ist sie vielen Firmen dankbar. So hat Thyrolf & Uhle eine Treppe für das Haus in Reuden gesponsert. Nun muss dieser Notausgang noch angebracht werden. Gefreut hatte sich Schmidt auch, dass Gruns Kfz-Service vor ein paar Wochen unentgeltlich den Kleinbus des Vereins wieder flott machte. Der Bus ist regelmäßig zwischen Dessau, Reuden und Brjansk unterwegs. Gesteuert wird er von Wassili Dudin, der Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal nach Dessau kam, weil er einer der Liquidatoren nach der Tschernobylkatrastrophe war. Er hatte geholfen, den Atomreaktor abzudichten. Seit 20 Jahren ist der 54-Jährige dem Verein von Schmidt verbunden. Seit zwei Jahren ist auch Alexander Zarev als Fahrer und Helfer dabei. "Ich freue mich, wenn ich anderen Menschen helfen kann", begründet der 51-Jährige.