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Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Seelenheil auf Warteliste

Von HAUKE HOFFMEISTER 19.04.2011, 17:43

DESSAU/MZ. - Im schwarzen Ledersessel sitzt der Tiefenpsychologe Hartmut Völker. Auf dem kleinen Tisch davor die obligatorische Box mit Papiertaschentüchern, nach denen seine Patienten greifen können. Völker hat sich vor 20 Jahren als erster Therapeut in der Stadt niedergelassen. Mitte der 90er Jahre kamen nach und nach neue Psychologen hinzu. Insgesamt arbeiten nunmehr zehn Therapeuten in Dessau-Roßlau. Doch Hartmut Völker bleibt, wie seine Kollegen auch, nach wie vor an der Grenze seiner Belastbarkeit.

Patienten strömen aus Bitterfeld, Zerbst, Köthen und von weiter her zur ihren 50-minütigen Sitzungen. Sie leiden an Burnout, Depressionen und Ängsten. Dabei müssen Neupatienten ein Jahr bis anderthalb Jahre auf die erste Sitzung warten. Im Bundesdurchschnitt beträgt die Wartezeit gerade einmal zweieinhalb Monate. Den Durchschnitt ermittelten Forscher für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen jüngst in einer Studie.

"Einen Termin zu bekommen, gleicht einem Glücksspiel", weiß auch der 60-jährige Völker. "Seit 20 Jahren suche ich nach einer Lösung, wie ich die vielen Anmeldungen strukturieren kann." Vergeblich. "Aller drei Monate kann ich etwa 20 neue Patienten annehmen", erzählt der Psychoanalytiker. Doch auf seiner informellen Liste stehen 200 Namen.

"Die Hemmschwelle wird geringer, einen Psychologen aufzusuchen", erklärt die Magdeburger Therapeutin Barbara Orschinski die immense Nachfrage an psychologischen Psychotherapeuten. Neuerdings sorgen sich vermehrt ältere Menschen. Deren Belastungen sind der Leerlauf nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben oder das Wegsterben der Freunde und Familienangehörigen. Andere wiederum suchen professionelle Hilfe, um das bisheriges Leben zu reflektieren.

Kinder und Jugendliche

Ebenso schwierig ist es für Kinder und Jugendliche, einen Behandlungstermin zu bekommen. Britta Orlowsky ist Dessaus einzige Fachtherapeutin für die Leiden der jungen Menschen, von denen nur jeder zweite der Behandelten aus Dessau-Roßlau kommt. Das Einzugsgebiet umfasst Köthen, Bitterfeld-Wolfen, Oranienbaum und Umgebung. Orlowsky sagt: "Auf einen Termin gedulden sich die jungen Patienten etwa anderthalb Jahre." Verheerend für Kinder, die möglichst zügig Hilfe in Anspruch nehmen sollten, damit ihre Entwicklung nicht gestört werde, erklärt die Spezialistin.

Und deren Leiden sind nicht von ungefähr: Zum Wechsel von der vierten in die fünfte Klasse steigt der Leistungsdruck. Eltern wollen den besten Ausbildungsweg für ihre Kinder - die wiederum zermürben an Schul- und Leistungsängsten. Andere Kinder und Jugendliche müssen den Tod eines Elternteils verarbeiten oder die Trennung der Eltern verkraften. Manch ein kleiner Patient wurde misshandelt. "Ein Kind oder Jugendlicher bleibt ein bis zwei Jahre in Therapie", sagt Britta Orlowsky.

Statistik und Realität

Trotz der immens langen Wartezeit für Neupatienten von bis zu anderthalb Jahren sieht die Kassenärztliche Vereinigung (KV) keinen eklatanten Mangel an Therapeuten in der Stadt. Der rechnerisch statistische Bedarf sei gedeckt, heißt es in Magdeburg auf Anfrage der MZ. In Dessau versorge ein psychologischer Psychotherapeut 11 409 Einwohner, in Roßlau komme ein Spezialist auf 24 770 Einwohner, so die KV. Unberücksichtigt bleibt in den Statistiken allerdings, wie viele Patienten aus den umliegenden Orten kommen.

Indes sind fünf Stellen für psychotherapeutisch tätige Ärzte in der Stadt unbesetzt, zudem eine Stelle für einen Kinder- und Jugend-Psychotherapeuten in Roßlau. Doch es gibt kaum ausgebildete psychotherapeutisch tätige Ärzte in Ostdeutschland und die fünf offenen Stellen können nicht an potentielle psychologische Psychotherapeuten ausgeschrieben werden. Es sei ein berufspolitisches Spiel, das zwischen Ärzten und Psychotherapeuten ausgetragen werde. Dabei habe die Ärzteschaft in der Kassenärztlichen Vereinigung bereits auf einige Stellen verzichtet, sagt Barbara Orchinski, die die Therapeuten in der Kassenärztlichen Vereinigung in Magdeburg vertritt. Weitere würden allerdings nicht an Psychotherapeuten abgegeben. Indes äußert sich Orchinski zuversichtlich, dass sich die  Versorgungssituation verbessern werde. Wobei sie jegliche Konkretisierung vermeidet: "Ein neues Plan-Verfahren wird derzeit diskutiert. In den nächsten zwei Jahren wird sich die Situation verändern."