Der Richter und sein Lenker
Roßlau/MZ. - Hans Girod hat wieder zugeschlagen. "Das Skelett im Wald" heißt sein jüngstes, im Verlag "Das neue Berlin" erschienenes Buch, welches "unbekannte und vergessene Mordfälle aus der DDR" dem Dickicht entreißt. Zum Bücherfrühling in der Roßlauer Stadtbibliothek las der Autor, der bis 1994 Hochschuldozent für Spezielle Kriminalistik an der Humboldt-Universität Berlin war, die Titelgeschichte.
Es ist Montag, der 17. Mai 1963. Vier Männer bringen "ein unförmiges Paket aus weißem Leinen" in den Sektionssaal. Es enthält menschliche Knochen. Das Paket setzt ein vielfältiges Procedere in Gang: Bestimmung der Knochen, Suche nach dem Rest der Gebeine, Durchsicht ungeklärter Vermisstenanzeigen. Hauptmann Weidinger stößt dabei auf eine Akte aus dem Jahr 1949 mit der Aufschrift "Vermisstensache Ursula Gruhl".
Ihr Ehemann hatte der Polizei einen Abschiedsbrief, der suizidale Absichten enthält, vorgelegt. Weidinger stößt auf das Versäumnis der Polizei, den von der Mutter der Vermissten beglaubigten Brief durch Sachverständige prüfen zu lassen. Beinah vierzehn Jahre nach dem Verbrechen wird der inzwischen wieder verheiratete Ehemann überführt. Erfolgreich war vor allem Kommissar Zufall. Denn die gefundenen Knochen sind nicht die Gebeine von Ursula Gruhl. Sie gehören einer Frau, die wirklich Selbstmord beging.
Girod erzählt nüchtern, pragmatisch, ausführlich und verzichtet entsprechend der sachlichen Spielregeln der Sachliteratur auf literarische Zierrate. Die Fallschilderungen enthalten kurze kriminologische oder rechtliche Exkurse in kursiver Schrift.
Im Gespräch zur Lesung kritisiert Girod die gegenwärtige Polizeiarbeit. "Es ist ein merkwürdiger Zustand, dass am Toten gespart wird." Im Osten seien mehr Selektionen durchgeführt worden als heute in der gesamten Bundesrepublik. Und wenn die Suizidrate im Osten höher war als im Westen, dann sei das kein Hinweis auf psychische Befindlichkeiten, sondern auf eine bessere Erkennung.
Heute würden viele Gerichtsmedizinische Institute geschlossen, und natürlich kritisiert Girod auch die Schließung der Sektion Kriminalistik an der Humboldt-Universität. Alles Gründe dafür, das die polizeiliche Leichenschau zunehmend inkompetent sei. Ein Polizist unter den Hörern relativiert dann so manches an der Kritik des Professors mit verlorenem Lehrstuhl.
Im Buch befragt Girod die Einmischung der SED in das Rechtssystem des Ostens immer wieder auch kritisch. In der Bibliothek hebt er die DDR-Polizeiarbeit hoch. Wenn das nur nicht zwei Seiten einer Medaille sind. Das Rechtssystem der Bundesrepublik sei "theoretisch ideal, praktisch unmöglich". Im Osten habe es geheißen: "Recht ist immer klassenabhängig." Girod: "Daran hat sich nichts geändert."
Dass es trotz aller interessengeleiteten Mängel keine Alternative zur Gewaltenteilung gibt, illustriert ein im Buch zitiertes Mielke-Wort: "Wir sind nicht davor gefeit, dass wir einmal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das jetzt schon wüsste, würde er morgen nicht mehr leben. Kurzer Prozess - weil ich ein Humanist bin."
Und wenn ein Gesprächsteilnehmer angesichts gegenwärtiger, vermeintlich milder Urteile nach der Staatsmacht ruft, um Richter zu bekehren, verstellt das alle nötige Kritik im Dunstkreis der Ostalgie: Konfabulation.