Boombox-Meeting Boombox-Meeting: Dessau als Mekka der Ghettoblaster-Fans

Dessau - Für den einen ist es das Jahrzehnt seiner Kindheit und Jugend. Für den anderen, Wendekind, Jahrgang 1989, ist es immer wieder ein Abtauchen in eine andere Welt.
Beide sind sich einig, dass die Achtziger das Kultjahrzehnt schlechthin waren. Von wegen peinliche Frisuren (Vokuhila und Dauerwelle), geschmacklose Klamotten (Jacken mit Schulterpolstern und Ballonseidenanzüge) und anachronistische Superhelden (Das A-Team und Knight Rider). Von mancher Musik ganz zu schweigen.
Das letzte Jahrzehnt, wo fast alles möglich war
„Irgendwie haben sich die Leute damals mehr Mühe gegeben, ihre Individualität zu unterstreichen“, denkt Ronny Kolberg, Jahrgang 1977, gerne an die Zeit vor 30 Jahren zurück.
„Das muss schon ein besonderes Jahrzehnt gewesen sein“, vermutet André Kinder, 1989 geboren. Es war vielleicht das letzte Jahrzehnt, wo fast alles möglich war, aber die Welt nicht so unübersichtlich wie heute.
Kaum etwas drückt die Achtziger für den 39-Jährigen aus Teltow bei Berlin und den 27-Jährigen aus Radeburg bei Dresden so gut aus wie eine Boombox.
Hunderte „Ghettoblaster“ auf einem Haufen
In der Umgangssprache hat sich für die Radiorekorder mit ihren teilweise massiven Boxen der Begriff „Ghettoblaster“ etabliert. Am Sonnabend stapelten sich Hunderte dieser Geräte auf einer sehr langen Tischreihe. Rund 100 Sammler dieser Radiorekorder aus ganz Deutschland machten das Gelände einer ehemaligen Werkhalle in der Daheimstraße 51 wieder zu ihrem Mekka.
„International Boombox Meeting“, nennt sich die Veranstaltung, wo die Sammler ihre „Schätzchen“ präsentieren. Wo man sich austauscht, fachsimpelt und natürlich auch in alten Zeiten schwelgt.
Anfänge 2008 im Görlitzer Park in Berlin
2008 hat alles im Görlitzer Park in Berlin angefangen. Dann ging es nach Nürnberg. Seit 2010 ist Dessau-Roßlau die feste Adresse für die Fans des gepflegten Beats.
Sie mögen Musik nur, wenn sie laut und synthetisch ist. Wenn es nicht nur in den Boxen, sondern auch im Körper vibriert. Dann vergessen sie den ganzen Stress, die Hektik und die schlechten Nachrichten.
„Das Boombox Meeting ist ein Muss für uns“, sagen Ronny Kolberg und André Kinder unisono. Dass sich seit 2010 die Bauhausstadt als Mekka dieser Szene etabliert hat, ist kein Zufall.
Die Helden des Ghettoblasters
Die Dessauer „Magic Mayer“ und „Blasterpunk“ sind so etwas wie Helden im Ghettoblaster-Mikrokosmos. Sie gelten zusammen mit anderen Dessauern als Pioniere der Breakdance-Bewegung in der DDR.
Zu den Hip-Hop- und Synthiesounds aus ihren Radiorekordern performten sie in aller Öffentlichkeit ihre amerikanisch inspirierten Tanzstile, mit viel Applaus des Publikums und mancher Festnahme oder Rüge durch die Ordnungsmacht.
Mit „Dessau Dancers“ wurden Magic Mayer und Co. im letzten Jahr auch auf der Kinoleinwand ein filmisches Denkmal gesetzt. Viel Worte darüber verlieren wollen sie nicht mehr. Als Mitorganisatoren des Boombox Meetings und DJs, die am Samstagabend der Fangemeinde aus ganz Deutschland ordentlich einheizten, drücken sie der Veranstaltung noch immer ihren persönlichen Stempel auf.
Breakdance-Film „Beat Street“ als Stein des Anstoßes
Auch dafür reisten Kolberg aus Teltow und André Kinder aus Radeburg wieder nach Dessau. Und natürlich, um Erlebtes unter Gleichgesinnten auszutauschen. Als 1987 der US-amerikanische Breakdance-Film „Beat Street“ im DDR-Fernsehen lief, da war es um Kolberg geschehen.
Diesen Lifestyle mit Ghettoblaster, cooler Tanzperformance, Skateboard und „heißen Schlitten“ wollte er auch leben. Die Wende war nicht mehr weit. Der erste Ghettoblaster, das erste Skateboard und später das erste amerikanische Auto, wurden angeschafft. Mit dem Ghettoblaster ging es für ihn nach Schulschluss zum Tennisplatz seines Ortes, um mit der Clique abzuhängen.
„Manche verstehen das Lebensgefühl einfach nicht“
Noch heute, wenn er Bekannten im Garten oder auf der Baustelle hilft, bringt er einen seiner acht Ghettoblaster mit. „Manche kieken da doof. Die verstehen das Lebensgefühl einfach nicht“, erzählt er.
Es ist ein bisschen Trotz, Protest und Provokation, aber immer friedlich. In seiner Werkstatt und seinem Teilehandel für US-Fahrzeuge kann der gelernte Karosseriebauer er selbst sein, mit aufgedrehtem Ghettoblaster.
Ein Kumpel brachte Kinder vor zehn Jahren auf den Geschmack. Rund fünfzig Ghettoblaster nennt dieser mittlerweile sein Eigen.
„Erst brauchte es etwas Mut, damit durch die Straßen zu ziehen. Heute gönne ich mir einfach die Freiheit“, sagt der Instandhalter aus Radeburg bei Dresden. In Dessau können sie ihre Liebe zu Bässen und Boxen ganz offen ausleben. Auch 2017 ganz bestimmt wieder. (mz)