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16 Jahre Recherche 16 Jahre Recherche: Ein neues Buch widmet sich der Geschichte der Gestapo in Anhalt

Von Thomas Steinberg 14.03.2021, 11:00
Dessau, wo die Nazis großen Rückhalt hatten, wurde kurz vor dem Kriegsende zerstört.
Dessau, wo die Nazis großen Rückhalt hatten, wurde kurz vor dem Kriegsende zerstört. Stadtarchiv

Dessau - Otto Sens fiel nicht auf. Viele, die man später nach ihm fragte, konnten sich seiner nicht erinnern. Das ist erstaunlich. Denn Sens, 1898 in Dessau geboren, 1970 in Hannover gestorben, war von 1934 bis 1939 in Anhalt eine der wichtigen Stützen des NS-Regimes – als erster Leiter der „Anhaltischen Politischen Polizei (Geheime Staatspolizei) Dessau“.

Wer bei Gestapo das vom Film geprägte Bild eines Finsterlings im Ledermantel vor Augen hat, irrt bei Sens. Er musste diese Rolle auch nicht erfüllen, ebenso wie die Gestapo keinen riesigen Apparat brauchte, um die Unterdrückungsmaschine am Laufen zu halten - in Spitzenzeiten hatte die für ganz Anhalt gerade einmal 67 Mitarbeiter.

Dennoch konnte sie massenhaft Menschen ohne richterliche Überprüfung in „Schutzhaft“ nehmen, manchmal für Tage, manchmal für Jahre, KZ-Aufenthalt inklusive. Wie das gelang, erklärt der in Köthen geborene und in Halle lebende Historiker Alexander Sperk in seiner jüngsten Veröffentlichung „Die geheime Staatspolizei in Anhalt“.

Gestapo konnte sich auf das weit verbreitete Denunziantentum verlassen

Auf über 600 Seiten präsentiert er das Ergebnis einer 16-jährigen Recherche: Die Struktur der Gestapo, die Biographien ihrer Mitarbeiter und die ihrer Opfer.

Die Gestapo konnte sich auf das weit verbreitete Denunziantentum unter den „Volksgenossen“ verlassen. Aus der Firma Heerbandt in Raguhn meldete ein Zuträger, dass auf einen Klodeckel die Worte „Prolet geh nicht zur Wahl“ geschrieben wurde. Der mutmaßliche Verfasser Paul Schneidereit wurde in Schutzhaft genommen. Dank der beflissenen Zuträger war es offenbar meist gar nicht nötig, dass bei Verhören gefoltert werden musste – die Informationen erreichten die Gestapo frei Haus.

Ein Schwerpunkt war der Kampf gegen die Untergrund-KPD. Aus NS-Sicht war der in Anhalt bereits 1936 gewonnen, nachdem dessen führende Köpfe Gustav Ponanta und Wilhelm Lebe festgenommen worden waren und alle Namen verraten hatten - unter welchen Umständen, ist nicht überliefert.

Nazis konnten sich in Anhalt auf breiten Rückhalt stützen

Solche „Erfolge“ ließen den Eindruck entstehen, die Gestapo sei überall, könne jederzeit zuschlagen und Menschen nach Belieben verschwinden lassen. Offener Terror war - zunächst - nicht erforderlich. Das funktionierte nicht zuletzt deshalb so gut, weil sich die Nazis in Anhalt auf breiten Rückhalt stützen konnten - in Anhalt kamen sie durch Wahl schon 1932 an die Macht. Sperk setzt wohl deshalb das Wort „Machtergreifung“ zumeist in Anführungszeichen.

Das hieß indes nicht, dass alle Maßnahmen des Regimes rückhaltlos begrüßt wurden. So spiegeln die auf Gestapo-Erkenntnisse beruhenden Lageberichte des Staatsministers Alfred Freyberg auch Verstimmungen über zu viele vom NS-Staat inszenierte Veranstaltungen oder das Murren der Bauern über zu niedrige Eierpreise.

Allgemein lässt sich wohl sagen: Von Widerstand kann kaum die Rede sein, am mutigsten erwiesen sich noch einige der Bekennenden Kirche zugewandte Pfarrer. Auf der anderen Seite stand die vom NS-Staat misstrauisch beäugte Konkurrenz von rechts, insbesondere der monarchistisch, militaristisch und antidemokratisch gesinnte Stahlhelm.

Ein Schwerpunkt von Sperks Arbeit waren die Biographien der Gestapo-Mitarbeiter

Grundsätzlich waren die Berichte, wie verlangt, betont sachlich abgefasst und ließen auch Angriffe gegen jüdische Geschäfte nicht aus, die im übrigen verfolgt wurden. Zufrieden berichtete die Gestapo, dass in jüdischen Zirkeln immer häufiger die Auswanderung thematisiert wurde.

Allerdings warnt Sperk davor, die Berichte für ein realistisches Abbild der Lage zu nehmen. „Vieles“, sagt er, „wussten die nicht.“ Manches wurde aufgebauscht, um die Gestapo in hellerem Licht darzustellen, ihre Bedeutung zu überhöhen und über Personalmangel zu klagen.

Ein Schwerpunkt von Sperks Arbeit waren die Biographien der Gestapo-Mitarbeiter. Er ist der erste Forscher, der sich der unteren und mittleren Chargen angenommen hat – in mühsamster Kleinarbeit. Dabei konnte er zwei Mythen ausräumen: Dass erstens die Gestapo-Leute vor der anrückenden Sowjetarmee geflohen seien und zweitens grundsätzlich in der Bundesrepublik Karriere bei der Polizei machen konnten.

Verurteilungen beruhten nie auf dem Dienst bei der Gestapo

Richtig ist, dass tatsächlich der übergroße Teil irgendwann im Westen auftauchte und einige von den Länderpolizeien übernommen wurden. Doch ebenso fand er etliche Beispiele, in denen die Aufnahme in den Staatsdienst verweigert wurde und es sogar zu Verurteilungen kam. Andere lebten unerkannt in der DDR oder wurden inoffizielle Mitarbeit der Staatssicherheit.

Die Verurteilungen beruhten jedoch nie auf dem Dienst bei der Gestapo, sondern auf Einsätzen unter anderen bei den Killerkommandos der Einsatzgruppen in Polen und der Sowjetunion. Das heißt nicht, dass die Gestapo-Polizisten nicht nur im moralischen, sondern auch im strafrechtlichen Sinne jenseits des Tatbestands Freiheitsentziehung Schuld auf sich geladen hatten.

Willi Prautzsch war bis 1939 Chef der Spionageabwehr in Dessau und wechselte anschließend nach Innsbruck und wurde dort zum gefürchtetsten Gestapo-Schläger, was im Nachhinein selbst ehemalige Kollegen bestätigten.

Für Sperk ist „Die geheime Staatspolizei in Anhalt“ sein wichtigstes Buch

Für Sperk ist „Die geheime Staatspolizei in Anhalt“ sein wichtigstes Buch - und sein letztes. Das habe er von seiner ständigen Arbeit gestressten Familie versprochen, weil Recherche und Schreiben größtenteils in seiner Freizeit erfolgten.

Seit Jahren nämlich arbeitet der Historiker bei der Stasi-Unterlagenbehörde. Dort sitzen ihm regelmäßig ehemalige IM gegenüber. Und jedes Mal, erzählt er, fingen sie das Gespräch gleich an: Sie hätten nie jemandem geschadet. (mz)

Die Geheime Staatspolizei in Anhalt. Personal, Lageberichte, Verfolgte. Wissenschaftliche Reihe der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, Bd. 5, Halle (Saale) 2021, Mitteldeutscher Verlag, 48 Euro.