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Das schmutzige Weiße Gold Wie die Vistrafaser aus Wolfen ihren Siegeszug antrat und wie sie zur Umweltverschmutzung beitrug

Die Vistrafaser wurde in Wolfen hergestellt. Vom Holz bis zum Spinnfaden lief hier alles in einem Prozess. Doch das Prozedere hatte auch seine Schattenseiten.

Von Erhard Finger 06.06.2021, 12:00
Mit einem bunt geschmückten Vistra-Wagen nimmt die Faser-Belegschaft im Jahr 1941 an einem Umzug durch Wolfen teil.
Mit einem bunt geschmückten Vistra-Wagen nimmt die Faser-Belegschaft im Jahr 1941 an einem Umzug durch Wolfen teil. (Foto: IFM)

Wolfen - Wenn in einigen Monaten die neue Ausstellung im Industrie- und Filmmuseum Wolfen öffnet, dann wird sie dem „Weißen Gold“ zu seinem Glanz verhelfen. Die Vistrafaser bekommt endlich den ihr zustehenden Platz.

Die Geschichte des „Weißen Goldes“ ist durchaus nicht nur mit positivem Image verbunden, wie die Bezeichnung für die Baumwolle vermuten lässt. Und der Begriff ist auch keine Erfindung der Neuzeit. Nebukadnezar hatte ihn nach dem Sieg der Babylonier über Ninive (ca. 612 v. Chr.), dem ersten Baumwollkrieg der Geschichte, für den schneeigen Faserstoff geprägt. Und bis in unsere Zeit sorgte das „Weiße Gold“ für Wohlstand wie für Streit und Krieg.

Erst mit der Produktionsaufnahme der Vistrafaser in Premnitz, 1920/21, entspannte sich die Lage. Teure Bauwollimporte konnten abgelöst werden. Die Faser sollte ihren Siegeszug antreten. Einerseits. Andererseits war mit diesem Siegeszug - übrigens nicht nur in der DDR - eine gravierende Umweltverschmutzung verbunden.

Blick in die Vistraspinnerei - im Jahr 1938
Blick in die Vistraspinnerei - im Jahr 1938
(Foto: IFM)

Ende der 20er Jahre begannen in der Filmfabrik konkrete Vorbereitungen zur Produktionsaufnahme einer Vistrafaser

Und es gab zudem große Vorbehalte. Man witzelte über die aus der Vistrafaser hergestellten Herrentrikotagen mit „Anzug aus Buchenholz“ und fragte, ob ein „Tischler oder Schneider die Knöpfe anbringen“ müsste. Mit der Einzahlung von zehn Pfennigen pro verkaufte Kilo Vistrafaser wurde eine umfassende Werbekampagne für die Faser finanziert. Es sollten Vorurteile gegen die mit Hilfe der Chemie aus Holz gefertigte baumwollähnliche Spinnfaser abgebaut werden.

Ende der 20er Jahre begannen in der Filmfabrik konkrete Vorbereitungen zur Produktionsaufnahme einer Vistrafaser - ganz nach dem Vorbild der Premnitzer. Das dortige Faserwerk gehörte ab 1926 zum I.G. Farbenkonzern und war damit Mitglied der von der Filmfabrik geleiteten Sparte III des Konzerns.

Ab 1934 verstärkte das Naziregime die Bestrebungen, sich von wichtigen importierten Rohstoffen unabhängig zu machen. 1935 erreichte allein der Anteil der Importe von textilen Rohstoffen 17 Prozent der Gesamtimporte des Deutschen Reichs. Der Anteil an der Welt-Chemiefaserproduktion dagegen sank und erreichte 1935 knapp elf Prozent.

Der Textilzellstoffbetrieb in der Filmfabrik Wolfen mit der Vistraspinnerei
Der Textilzellstoffbetrieb in der Filmfabrik Wolfen mit der Vistraspinnerei
(Foto: IFM)

Die Filmfabrik bot sich als Produzent der Kunstfaser geradezu an

Ein Ding der Unmöglichkeit in den Augen des Regimes! Im August 1934 wurden die Chefs der deutschen Kunstseide- und -faserindustrie ins Reichswirtschaftsministerium zitiert und zur Erweiterung ihrer Produktion verdonnert. Um 48 Prozent sollte die Kunstseidenfaser zulegen, um 50 Prozent die Spinnfaser. Und das schnell.

1934 legte der Reichswirtschaftsminister den „Neuen Plan“ vor, nach dem die volle Autarkie des Deutschen Reiches von Importen erreicht werden sollte. Ein Jahr später verkündeten die Nazis mit dem „Nationalen Faser-Stoff-Programm“ die konkrete Umsetzung des „Neuen Planes“ für die Chemiefaserproduktion. Überhaupt sollte die Textilrohstoffproduktion auf „rein deutscher Basis“ stattfinden.

Die Filmfabrik bot sich als Produzent der Kunstfaser geradezu an. Und zwar aufgrund der Vorarbeiten, die mit der Kunstseidenproduktion 1922 begonnen hatten, und der geleisteten Forschung. Ziel war die Vistrafaser - beginnend mit der Aufbereitung des Holzes über die Zelluloseherstellung bis zur ersponnenen Faser. Und das alles an einem Standort. Doch wegen des negativen Einflusses einer Zellstoff- und Faserproduktion auf die Filmherstellung lehnte Direktor Fritz Gajewski das Vorhaben ab. 1934 gab er den Widerstand auf.

1939 zog man alle Register, um für die  Vistrafaser zu werben.
1939 zog man alle Register, um für die Vistrafaser zu werben.
(Foto: IFM)

Die Vistrafaser war 1937 der Star der Weltausstellung in Paris, sie wurde mit einem „Grand Prix“ geadelt

Von 1934 bis 1937 wurden zwei Zellstofffabriken und eine Spinnerei errichtet. Mit ihrer Inbetriebnahme erhöhte sich die Produktion der Vistrafaser in Deutschland auf fast 36 Prozent der Weltproduktion. Das Ziel des „Nationalen Faser-Stoff-Programms“ war erreicht.

Die Vistrafaser war 1937 der Star der Weltausstellung in Paris, sie wurde mit einem „Grand Prix“ geadelt. 1938 besuchte das „Ägyptische Komitee der Internationalen Baumwollspinnervereinigung“ die Fabrik in Wolfen und war beeindruckt.

Soweit die Sonnenseite der Faser. In die Feierlichkeiten zu ihrem 20-jährigen Jubiläum mischten sich bereits Klagen. Der Grund: Die Faserproduktion war verbunden mit massiven Umweltproblemen. Die in die Grube Johannes eingeleiteten Abwässer machten das sichtbar. Und so blieb es bis zum Ende der DDR.

Die war in den 1980er Jahren weltweit der drittgrößte Hersteller der aus Zellulose gewonnenen Spinnfasern. Der Silbersee, wurde nach der Wende zum Tourismusmagneten mit negativem Vorzeichen. Am 21. Dezember 1989 wurde die Vistraproduktion in Wolfen nach 57 Jahren eingestellt. Im Chemiepark wird heute mit einer Vistrastraße im Areal A an die Produktion dort erinnert. (mz)