Über sechs Millionen Deutsche bereits tätowiert Über sechs Millionen Deutsche bereits tätowiert: Männer weinen öfter

Wolfen/Halle (Saale) - Das Arschgeweih hat sich die Hörner abgestoßen - zumindest bei Nils Breuer. Nur vereinzelt sticht der Tätowierer das in den 90er Jahren sehr beliebte und heute eher als Jugendsünde versteckte Steißbein-Motiv in die Haut seiner Kunden. Derzeit seien Sprüche sehr beliebt, sagt Breuer. Bei manchem könne man auf der Haut lesen wie in einem Buch. „Das ist schon cool“, sagt der Wolfener. Nur verschreiben sollte er sich nicht. Denn: Wenn der 31-Jährige die Nadel ansetzt, dann ist das für immer und ewig.
Nils Breuer tätowiert seit vier Jahren. „Mein Plan B“ heißt sein Tattoo-Studio in Wolfen. Dort, so sagt es Breuer, „kleidet“ er Menschen neu ein. Seine Kunden sind so bunt gemischt wie die Kunst, die er auf ihre Haut bringt. Und es werden immer mehr. Seine „Haute Couture“ ist derzeit gefragt wie nie. Ein Trend, nicht nur in Wolfen.
Kein schlechtes Image mehr
Die Zeit, in der Tätowierungen mit Seeleuten, Kriminellen und dem Rotlichtmilieu in Verbindung gebracht wurden, sind vorbei. Die künstlerische Körperverzierung ist längst zum Massenphänomen geworden. Heute gibt es keine Fußballmannschaft von Bundes- bis Regionalliga mehr, die nicht mit tätowierten Spielern gespickt ist. Mehr als sechs Millionen Menschen sind laut einer 2014 veröffentlichten Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Deutschland tätowiert. Und es werden immer mehr. Seit 2003 ist die Zahl der Tätowierten und Gepiercten um 25 Prozent gestiegen. Die Tinte in der Haut, die bis in die 80er Jahre vor allem Kennzeichen subkultureller Anhängerschaft war, ist gesellschaftsfähig wie nie zuvor. Das zeigt auch die geringe Zahl derer, die ihr Hautgemälde nicht mehr als Verschönerung empfinden. In der GfK-Studie geben nur elf Prozent der Befragten an, dass sie ihr Tattoo bereuen. Um ihre Haut wieder farbfrei zu bekommen, käme nur eine teure und mitunter langwierige Laserbehandlung in Frage.
Damit dieser Schritt nicht gegangen werden muss, legt Nils Breuer Wert auf intensive Vorgespräche. „Die können manchmal lange dauern“, erzählt er. Aber sich äußerlich zu verändern, sollte keine Laune sein. „Es ist eine wichtige Entscheidung im Leben.“ Und die ist manchmal auch mit Nebenwirkungen verbunden. Die Stoffe, die in den Farben verwendet werden, können Allergien auslösen. Außerdem sind Entzündungen oder Narbenbildung möglich. In jedem Fall ist ein Tattoo mit Schmerzen verbunden. „Da rinnen schon ab und zu Tränen“, sagt Breuer. Das sei mehr bei Männern als bei Frauen der Fall. „Die Mädels stehen das Tätowieren besser durch.“
Frauen lassen sich häufiger tätowieren
Vielleicht sind sie deswegen das Geschlecht, dass sich häufiger unter die Nadel traut. 9,9 Prozent der Frauen sind laut GfK-Untersuchung tätowiert. Bei den Männern sind es nur acht Prozent. Die meisten Körperbemalungen finden sich bei den 25- bis 34-Jährigen. Knapp ein Viertel der Befragten dieser Altersgruppe gab bei der Studie an, ein Tattoo zu besitzen. Aber auch bei älteren Menschen sind die kleinen und großen Verzierungen keine Seltenheit mehr. Sechs Prozent der 45- bis 64-Jährigen tragen laut GfK mindestens ein Kunstwerk auf ihrem Körper.
Was sich die Kunden von Breuer schon alles für Motive stechen ließen und vor allem wieso, das lesen Sie auf der zweiten Seite!
Diese Vielfalt zeigt sich auch unter den Kunden von Breuer. Erst vor kurzem tätowierte Breuer einer 60-Jährigen ein „E“ auf die Haut - zum Gedenken an ihren Mann. Und auch Alena Schmidt trägt ein Andenken auf ihrem Körper. Ihr Dekolleté ziert der Satz: „Daddy, i love you“. Ihr Vater ist 1993 gestorben. Die subkutane Erinnerung sei für sie etwas ganz Besonderes. Wie alle ihre Bilder auf der Haut. Die 21-Jährige scheut die Nadel nicht. Fünf Tattoos nennt sie ihr Eigen. Im Alter von 18 Jahren ließ sie sich ihr erstes stechen.
Zu jedem Tattoo gehört eine Geschichte
Etwas älter war Petra Leetz bei ihrer Premiere. Zum 50. Geburtstag bekam sie ihr erstes Tattoo geschenkt. Sie entschied sich für das chinesische Zeichen ihres Sternbilds Wassermann, das seitdem auf ihrem Hals zu sehen ist. Später kam dann noch ein zweites Nadelwerk hinzu. Das Geburtsdatum ihres Sohnes ziert ihren rechten Unterarm. „Man kommt mit Menschen über Tattoos ins Gespräch“, schildert Leetz ihre Erfahrungen. Jedes einzelne verrate etwas über den Träger. Das sei ähnlich wie mit der Musik, sagt die Wolfenerin.
Auch Marcel Dahms fühlt sich wohl in seiner Haut – die sich in den letzten Jahren farblich verändert hat. „Man sollte jedoch schon eine gewisse Reife haben, um sich tätowieren zu lassen“, rät er. Denn schließlich bleibe ein Tattoo für immer – wie das eigene Spiegelbild. Und was Dahms im Spiegel sieht, gefällt ihm.
Nils Breuers Fingerspitzengefühl hat daran einen großen Anteil. Mehr als 1 000 Tätowierungen, schätzt der Wolfener, hat er schon gestochen. Jedes einzelne hat er fotografiert und archiviert. Keines ist dabei so wie das andere. Schon bei der Haut fangen die Unterschiede an, sagt Nils Breuer. Mal ist sein Arbeitsmaterial empfindlich, mal robust. Einmal setzte Breuer die Nadel sogar bei sich selber an. „Da habe ich mich selbst gequält“, sagt er über das Tattoo aus eigener Hand. Die anderen übernahm sein Bruder.
Tätowierer ist ein Traumberuf
Ist Tätowierer sein Traumberuf? Irgendwie schon, sagt Breuer. Zumindest ist er erfolgreich damit. Sein Auftragsbuch ist voll. Seine Kunden empfehlen den 31-Jährigen weiter. Talent sei wichtig in dem Beruf. Aber auch Kreativität zähle - und vor allem Sauberkeit. Deutschlandweit gibt es keine einheitliche und rechtlich verbindliche Regelung für die Ausbildung. Sich an Hygienestandards zu halten, sei deswegen eine der obersten Prioritäten.
Zu Breuers Erfolgsrezept gehört allerdings noch eine weitere Fähigkeit: Zuhören. Der Wolfener ist nämlich auch Geheimnishüter. Zu den Bildern auf der Haut gehören häufig Geschichten, die unter die Haut gehen. Welche? Das verrät Breuer nicht.
(mz)
