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Chemie-Kombinat „Maggi des Ostens“: Wie es dazu kam, dass „Bino“ zu DDR-Zeiten in Bitterfeld produziert wurde

Sogar für die Küche hatte das Chemie-Kombinat Bitterfeld einst etwas zu bieten: „Bino“, das „Maggi des Ostens“, wurde in einem seiner Betriebe hergestellt.

Von Günter Matter Aktualisiert: 25.10.2021, 09:13
 „Bino“, das „Maggie des Ostens“, wirbt mit diesem Slogan
„Bino“, das „Maggie des Ostens“, wirbt mit diesem Slogan (Foto: EKB/ Repro: Günter Matter)

Bitterfeld/MZ - Nachkriegszeit ist Hungerzeit. Das Elektrochemische Kombinat (EKB) schafft Abhilfe. Es kann auf gute Grundlagen zurückgreifen: Bereits 1941 gibt es im Werk Nord des Bitterfelder IG Farben-Betriebes eine Forschungsabteilung, die sich mit Lebensmittel-Ersatzstoffen beschäftigt.

In den Läden sieht es mau aus. Fleisch ist meistens aus. Was tun, um den Eiweißmangel zu kompensieren? Man denkt dabei an Produkte wie Suppenwürze und Kräftigungsmittel (Peptonisat) zur Vermeidung von Hungerschäden. Produkte der Schweizer Firma Maggi gibt es in der Ostzone nicht mehr. Ein Ersatz muss her, etwas, das als flüssige Speisewürze, gekörnte Brühe, Brühpaste, Brüh- und Soßenwürfel geeignet ist und den Hausfrauen die Zubereitung von Fleisch-(Ersatz) und Gemüsebrühen erleichtert.

Die Produktion von Speisewürze beginnt 1948 im Werk Bitterfeld-Nord

Für einen Chemiebetrieb sind das zwar ungewöhnliche Produkte, doch das Fachwissen in der organischen Chemie ist da. Und den Lebensmittelchemikern gelingt es bis Mitte der 1960er Jahre, Produkte wie Kräftigungsmittel, Aufbaustoffe, Würzpasten, Brühwürfel, Eiweißpulver, Wurstbindemittel, Eispulver, Hefen und Zahnpasta zu entwickeln.

Die Produktion von Speisewürze - das ostdeutsche Maggi - beginnt 1948 im Werk Bitterfeld-Nord, das mit „Bino“ auch der Namensgeber ist. Doch ein Jahr später schon verhängt das zuständige DDR-Ministerium eine Verkaufssperre. Die Firma VEB AIGA Nahrungsmittel-Fabrik, Auerbach/V. wittert Konkurrenz. Doch die Bitterfelder lassen sich nicht ins Bockshorn jagen.

Um „Bino“ gibt es viel Aufregung. Gerüchte und Fake News machen die Runde. Westdeutsche Medien befeuern die Debatte. Es herrscht Unsicherheit: Was wird als Ausgangsstoff verwendet? Ist „Bino“ schädlich für die Gesundheit, erregt es gar Krebs? „Die Welt“ titelt am 1. März 1952 „Lebensgefährliche Suppenwürfel“. „Bild“ zieht nach mit „Ostzonen-Suppenwürfel bringen Krebs“. Auch die Gesellschaft Deutscher Chemiker (Stuttgart) übernimmt ungeprüft den „Welt“-Artikel und spricht gar von acht Toten durch Kehlkopfkrebs. Das schlägt Wellen bis in die hohe Politik beider deutscher Staaten. „Bino“ verhilft dem EKB zu einer super Entwicklung. Menge und Umsatz sind erheblich. Es gibt in Deutschland keinen Zweiten, der ein halbwegs gleich gutes Ergebnis erzielt. Das freilich passt nicht jedem.

 Liste des Rohstoffbedarfs für ein Quartal
Liste des Rohstoffbedarfs für ein Quartal
(Foto: Günter Matter)

Untersuchungen zeigen: Die Brühwürfel haben einen ähnlichen Kaloriengehalt wie Fleisch und Fisch und sind nicht gesundheitsschädlich

Was ist nun aber dran an den Behauptungen? Tatsächlich werden Schlachthofabfälle wie Sehnen, Hufe, Hörner verwendet, wie auch Abfälle der Fischverarbeitung, Kasein, Hefe, Keratine, Weizenkleber, Ölsamenextrakte und Sojabohnenmehl. Alles wird einer Eiweiß-Hydrolyse unterzogen, so dass wasserlösliche hygienisch einwandfreie Produkte entstehen. Während der Lagerung reifen die Geschmacksstoffe zu Fleischgeschmack und Bratenduft. Danach wird die Würze mit Speisefett und Gewürzen zu Brühwürfeln verpresst. Die Suppenwürfel enthalten zum Beispiel Nudeln, Weizenmehl, Rindertalg, Möhren, Liebstöckel, Zwiebeln, Pfeffer oder dessen Ersatz und „Bino“-Würze.

Untersuchungen zeigen: Die Brühwürfel haben einen ähnlichen Kaloriengehalt wie Fleisch und Fisch und sind nicht gesundheitsschädlich. Ein kleiner Nachgeschmack aber bleibt, schließlich fallen diese Produkte gewaltig aus dem Rahmen der Produktion des Chemiekombinats. Auf die Etiketten schreibt man daher verschleiert VEB EKB Bitterfeld. Bei den Hausfrauen ist „Bino“ jedoch in allen Varianten begehrt. „Koche mit Liebe, würze mit Bino!“ wird zum geflügelten Spruch. Mit dem Titelsong des Defa-Films „Auf der Sonnenseite“ (1962) setzt Manfred Krug „Bino“ die Krone auf.

 Werbung für Eiweißpulver
Werbung für Eiweißpulver
(Foto: Günter Matter)

Die Experten indes haben weitere Ideen. Denn auch mehr Eiweiß muss her für die Bevölkerung. Die „Bino“-Pilzwürzpaste entsteht. Forscher des EKB und des Forstwirtschaftlichen Instituts Tharant züchten in der Dübener Heide Pilze. Die sollen zu Würzpaste verarbeitet werden. Es dauert zwar einige Jahre bis zum verkaufsfähigen Produkt, aber immerhin ... Die Paste in der Alu-Tube ist der Hit.

Das EKB ist in der DDR nicht der einzige Produzent von Speisewürzen

Die Verarbeitung der tierischen Eiweißstoffe stinkt. Übelst. Die Leute gehen auf die Barrikaden. 1954 werden der „Bino“-Anlage Waschtürme nachgeschaltet, die den Gestank der Abgase beseitigen. 15 Jahre guckt sich Maggi cool an, was in Bitterfeld passiert. Dann kommt es zum Eklat. Dabei geht es nicht um die Produkte selbst, sondern um die Farbgebung des Warenzeichens „Bino“. Anfang der 1960er Jahre nämlich gibt es ein neues Etikett. Der Designer greift zu gelb-rot, den typischen Maggi-Farben. Das ist dumm. Man muss wieder zurück zum langweiligen gelb-braun.

Das EKB ist in der DDR nicht der einzige Produzent von Speisewürzen. Die Betriebe VEB Suppex Nahrungsmittelwerke Auerbach (Suppex-Suppen), VEB Küßner in Berlin (Küßner’s Brühfix), die Firma Erich Schmidt & Thiele in Halle/Saale (Erwa-Würze), die Weizenin-Werke Dresden (Weizenin-Speise-Würze) und der VEB ALO-Werk Erfurt (ALO-Brühpaste) sind direkte Konkurrenten. Seit Jahren sticheln und intervenieren sie: Die „Bino“-Produktion im EKB, einem Betrieb der Grundchemie, der Herbizide und Biozide herstellt, soll weg. Doch „Bino“ hat längst den Markt erobert. Sie lassen nicht locker. Das zuständige Ministerium knickt ein.

Mit der Gründung der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) und dem Chemieprogramm der DDR kommt die Chance für eine Produktbereinigung. Das EKB gehört ab 1957 zur VVB Elektrochemie und Plaste und gibt „Bino“ ab 1959 und schweren Herzens an die VVB Nahrungs- und Genussmittelindustrie ab.