Lawine kommt ins Rollen Lawine kommt ins Rollen: Im Sommer 1989 beginnen erste Friedensgebete in Bitterfeld

Bitterfeld/Wolfen - Entstehung des Neuen Forums, Bildung der Bürgerinitiative Bitterfeld, Dialog-Veranstaltungen, Großdemos und Protestzüge - die Ereignisse überschlagen sich im Herbst 1989 im Altkreis Bitterfeld. Seit Ende Oktober werden immer stärker öffentlich Veränderungen gefordert. Doch die Anfänge reichen wesentlich weiter zurück.
Bereits im Juli 1989 beginnen beispielsweise in Bitterfeld die Friedensgebete in der Katholischen und der Evangelischen Stadtkirche. 40, 50 Menschen sind das anfangs bloß. Doch ihre Zahl wächst. Bald zieht man von der einen zur anderen Kirche. Auch die kirchlichen Umweltgruppen sind eine Quelle des Protestes in der friedlichen Revolution. „Denn neben der Forderung nach Freiheit spielt hier in der Region der Umweltgedanke eine entscheidende Rolle“, erinnert sich Horst Tischer, der später Landrat werden sollte.
Stadtkirchen-Pfarrer Matthias Spenn und Pfarrer Reinhard Assmann von der Landeskirchlichen Gemeinschaft sind Impulsgeber in Bitterfeld, der spätere Bischof Axel Noack in Wolfen. „Es war eine spannende, aber auch eine mit Angst begleitete Zeit“, sagt Tischer. Denn niemand habe sagen können, wie es ausgeht.
In Wolfen kommen am 31. Oktober rund 1.000 Demonstranten zusammen
Im Rückblick zeigt sich, dass damals viele unterschiedliche Menschen und Gruppen an verschiedenen Stellen aktiv werden, Kontakte knüpfen, sich mit ihren Aktionen gegenseitig Mut machen und so zu einer Welle anwachsen, die letztlich nicht aufzuhalten ist. So sieht sich beispielsweise am 24. Oktober der Vorsitzende des Rates des Kreises, August Pietsch, gezwungen, zu einem ersten Dialog in den Saal der Bitterfelder Musikschule einzuladen.
100 Bürger sind dabei. Es geht bei aller Kritik, zum Beispiel am Bildungswesen oder der Handwerkerausbildung, tatsächlich noch um einen verbesserten Sozialismus. Nur zwei Tage später wird im Bitterfelder Rathaus offen über Umweltbelastungen in der Region diskutiert.
In Wolfen kommen am 31. Oktober rund 1.000 Demonstranten zusammen und fordern vor dem Rathaus in der Leipziger Straße Bürgermeister Thomas Kosan zum Dialog auf. Dieser Dialog scheitert, Kosan kommt gar nicht zu Wort. Deshalb schlägt er vor, sich am 4. November vor der Zentrum-Gaststätte in Wolfen-Nord zu treffen - und löst so die bis dahin größte freie Kundgebung in Wolfen aus, an der mehrere Tausend Menschen teilnehmen werden.
„Willensbekundung der Bitterfelder Bürger“ wird ausgearbeitet
Am 31. Oktober dagegen ziehen die Demonstranten über die heutige B184 nach Wolfen-Nord. Der Verkehr bricht zusammen. Die Teilnehmer fordern unter anderem die Zulassung des Neuen Forums. Am selben Tag verlangen im Raguhner Klubhaus „Gerard Philippe“ 350 Bürger Auskünfte über das Ausmaß der Umweltverschmutzung. Das Thema wird ein Dauerbrenner bleiben und schließlich auch in der Tageszeitung „Freiheit“ aufgegriffen: Sie veröffentlicht am 7. November erstmals Umweltdaten aus der Region.
Aus Treffen beim Tierarzt Frieder Schreier ab Mitte Oktober und in Zusammenarbeit mit den Kirchen entsteht bis Anfang November schrittweise die Bürgerinitiative Bitterfeld (BiB). „Sie war für alle offen, hatte keine fest gefügten Strukturen, sondern war ein Zusammenschluss von Bürgern, die den Umschwung organisieren wollten“, schildert Tischer, der wie viele Geschäftsleute, Pfarrer und Ärzte Mitglied war. In der Stadt bleiben die Kirchen erster Anlaufpunkt.
„Wir genießen ein bisschen Narrenfreiheit“, kommentierte das Pfarrer Spenn gegenüber Tischer. In der Friedenskirche findet am 2. November eine große Bürgerversammlung statt, wo eine „Willensbekundung der Bitterfelder Bürger“ ausgearbeitet wird. „Alle Teilnehmer haben unterschrieben“, erinnert sich Tischer. Und draußen habe die Stasi die Versammlung bewacht.
„Es waren so viele Leute gekommen, dass der Platz in der Kirche nicht ausreichte“
Drei Tage später, am 5. November, wird aus der Andacht für Frieden und Erneuerung in der Stadtkirche eine Spontankundgebung mit mehr als tausend Teilnehmern vor dem benachbarten Rathaus. „Es waren so viele Leute gekommen, dass der Platz in der Kirche nicht ausreichte“, schildert Tischer. Ab da finden jeden Sonntag solche Kundgebungen statt - dann aber angemeldet und mit Straßenabsperrungen durch die Motorradstaffel der Polizei.
Für die spontane Premiere werden die Rathaustreppen zum Podium, die NVA stellt einen Lautsprecherwagen, die Stadt liefert den Strom. Im Anschluss zieht ein Demonstrationszug durch die Stadt zum Stasi-Gebäude hinter dem Polizeirevier. Heute steht dort ein Pflegeheim. „Im Gebäude brannte kein Licht, kein Fenster stand offen. Die waren verschanzt“, schildert Tischer. Die Demonstranten forderten Reisefreiheit und die Zulassung des Neuen Forums. Aber auch „Wir bleiben hier“- Rufe ertönten.
Einen Tag zuvor haben es die Wolfener vorgemacht. Mehrere Tausend sind Kosans Vorschlag gefolgt. Vor der Zentrum-Gaststätte werden viele Reden gehalten, es bilden sich Schlangen an den Mikrofonen. Auch Rainer Waßner vom Neuen Forum kommt zu Wort und stellt die führende Rolle der SED in Frage.
Zwei Tage vor dem Mauerfall versammeln sich rund 2.000 Demonstranten vor dem Wolfener Rathaus
In Bitterfeld hat zu dieser Zeit der sogenannte Demokratische Block zum Sonntagsgespräch ins Kultur- und Informationszentrum eingeladen. Ratsmitglied Rainer Frommann fordert mehr Investitionen für den Umweltschutz. Die großen Probleme der Region sollten endlich offen diskutiert werden. Oberarzt Hans-Werner Trummel fragt Verantwortliche des Kreises, ob sie auch eigene Ideen hätten oder alles nur von oben nach unten weiterleiten würden.
Zwei Tage vor dem Mauerfall versammeln sich dann rund 2.000 Demonstranten vor dem Wolfener Rathaus und machen ihrem Unmut Luft. Anschließend ziehen erneut Tausende nach Wolfen-Nord. Am selben Tag organisiert die FDJ-Kreisleitung im Klubhaus der Jugend von Bitterfeld eine Diskussion zur aktuellen Lage. Und August Pietsch, Chef des Rates des Kreises, fordert in einem Gespräch mit Pfarrer Assmann, dass die Kirchen für die sonntäglichen Demos in Bitterfeld die Verantwortung übernehmen sollen.
„Die Kirchen haben sich dann der Bürgerinitiative bedient“, schildert Tischer, der damals die Kundgebungen bei der Polizei anmelden muss. Wie fragil Anfang November die Lage ist, hat er gut in Erinnerung: „Die Polizei war ja selber voller Angst. Die wusste nicht, wie die Demos vielleicht ausarten. Mancher Sprecher auf dem Markt war ja voller Wut. Und auch wir wussten nicht, wie die Staatsmacht jeweils reagieren wird.“ (mz)

