Kunstwelten in Bitterfeld Kunstwelten in Bitterfeld: Horror in Bäckerei-Ruine

Bitterfeld - Mit angstverzerrtem Gesicht rennt ein Junge aus dem düsteren, verfallenen Haus. Er stolpert durch den verwilderten Garten, fängt sich wieder, hetzt weiter. Bloß weg von hier, fort von dem Grauen - hämmert es in seinem Hirn. Er ist der Junge, der überlebt. Als einziger. Seine Freunde sind tot.
Fragen von Kindern und Jugendlichen, ihre Ideen und Vorschläge für die Zukunft von Bitterfeld-Wolfen stehen im Zentrum der diesjährigen „Kunstwelten“. Dabei kommen auch Angebote für Bildung, Arbeit, Wohnen, Freizeit und bürgerliches Engagement auf den Prüfstand. Bis Oktober finden Architektur-, Film-, Kunst-, und Schreibwerkstätten sowie Filmveranstaltungen, Gespräche, Vorträge und Lesungen statt - 15 Projekte mit 17 Künstlern.
„Und Klappe“, ruft Schülerin Lea Bauer. Der eben noch kopflos flüchtende Junge in der Kapuzenjacke taucht grinsend aus dem wuchernden Gestrüpp auf: „Alles okay diesmal?“ „War ziemlich gut. Aber eine Aufnahme machen wir noch“, antwortet Bauer. Alles auf Anfang. So ist das beim Film.
Das erleben Neuntklässler der Helene-Lange-Schule in Bitterfeld diese Woche hautnah. Sie eröffnen mit ihrer Filmwerkstatt „Ich film’ dich und mich“ die „Kunstwelten“. Dieses Projekt der Akademie der Künste mit dem Landkreis, der Stadt Bitterfeld-Wolfen, der Wohnstättengenossenschaft Bitterfeld und der Mehlhornstiftung findet zum neunten Mal statt. Unter dem Slogan „Wir sind die Stadt“ dreht sich alles um Bitterfeld-Wolfen.
Eigentlich war eine Dokfilmwerkstatt geplant. „Doch die 15 Schüler wollten Horrorfilme drehen“, erzählt Schulsozialarbeiterin Nicole Hehr. Die deutsch-palästinensische Regisseurin Pary El-Qalqili als Projektchefin fand die Idee toll. „Ich dachte eigentlich, das gibt Probleme“, sagt Justine Baumbach. „Dass die Regisseurin gleich zugestimmt hat, fand ich super.“ El-Qalqili gibt fachliche Hilfestellung und ist begeistert: „Die Schüler sind voll bei der Sache, haben gute Ideen. Und wachsen über Klassengrenzen hinweg zu Teams.“ Ob Regie, Drehbuch, Kamera, Ton oder Schnitt - alles machen die 15- bis 16-Jährigen selber. Und natürlich spielen sie auch. Auf Masken oder Kostüme verzichten sie. Das Grauen entsteht durch Atmosphäre, wenige Handgriffe reichen, um zu Untoten zu mutieren.
Gruselige Geschichten ausgedacht
Seit Montag haben sie sich im Kreismuseum die nötigen Kenntnisse erarbeitet; auf dem Markt Leute gefilmt, Geräusche aufgenommen, sich dazu gruselige Geschichten ausgedacht. Aus ursprünglich vier Storys entstehen zwei Kurzfilme von zwei Teams. Sie drehen sich um eine alte Geschichte - ein Horrorhaus, in dem einst eine mysteriöse Familie gelebt haben soll, die nie jemand sah. Nur ihr Baby habe oft vor dem Haus im Kinderwagen gelegen und mörderisch geschrien. Das Gebäude ist längst verfallen, doch die Legende lebt und das Böse in den Mauern offenbar auch ...
Aber wo findet man in Bitterfeld solch ein Horrorhaus? „Ach, uns sind viele gruselige Orte eingefallen“, sagt Lea Bauer. Doch nicht überall dürfe man drehen. Die Wahl fiel schließlich auf die alte Bäckerei vor dem Überbau an der B 100. „Die hat viele Räume und Treppen, draußen ist Platz und der Keller ist ziemlich gruselig“, meint Bauer, die als eine Art Cheforganisatorin für Team Martin fungiert.
Martin ist Martin Bisch - der Junge, der überlebt. Er liebt Horrorfilme und hat sich die Story einer aus dem Ruder laufenden Mutprobe von vier Freunden ausgedacht. „Ich hab mal einen Horrorfilm gesehen, der in nem verfallenen Haus spielte - das hat mich inspiriert.“ Der Neue in der Runde - gespielt von Florian Fritzsche, der als Computerfreak auch für den Filmschnitt zuständig ist - soll sechs Minuten allein in dem dunklen Keller ausharren und das per Handy filmen. Doch er kommt nicht wieder. Als die anderen nach ihm suchen, nimmt das Übel seinen Lauf.
Kamerafrau Siska Weisheit ist bei jeder Szene dabei. „Meine Mutter ist Fotografin und ich wollte unbedingt wissen, wie das so hinter der Kamera ist.“ Ihr Fazit: „Cool und anstrengend.“ Am schwierigsten sei, an den Darstellern dran zu bleiben, besonders wenn diese rennen. „Der Boden ist dreckig, Unrat liegt rum, aber ich schaue ja durch die Kamera und sehe nicht, wo ich hinlaufe.“
Und im Keller sieht man eh nichts, weil es stockfinster ist. Da helfen nur Handy-Lampen. „Allein würde ich hier nie runter gehen“, sagt Darstellerin Justine Baumbach. „Aber für nen Horrorfilm ist das cool.“ Auch Vanessa Fessel ist mit dem Filmvirus infiziert. „Ich dachte erst, das wird voll langweilig. Aber es ist spannend.“ Und der Spaß bleibt nicht aus. „Wir haben uns manchmal gegenseitig erschreckt“, erzählt Weisheit. An ein fertiges Drehbuch halte man sich übrigens nicht immer. „Wir haben beim Text auch improvisiert“, so Fessel. Wenn alles im Kasten ist, wird Florian Fritzsche die Filme schneiden und abmischen. Zu sehen sind sie Mitte Oktober bei der Abschlussveranstaltung in Berlin.
Aber eine letzte Szene will Team Martin doch noch schnell drehen. Die drei toten Freunde sollen am Filmende noch mal kurz auftauchen. Pary El-Qalqili übergibt Martin Bisch die Regie. Dreimal wird die beklemmende Sequenz geprobt. Dann heißt es: „Und Action!“ (mz)
