Kriegsende Kriegsende: Zwölf Tage und zwölf Nächte

Raguhn - Sie spülte das Geschirr, als die erste Granate ganz nah am Haus einschlug. Fensterscheiben zersplitterten. Mit dem Handwagen zog Ingeborg Hermann ihre kranke Mutter zum Pfarrhaus-Keller. Und während sie in Kleckewitz eingepfercht zwischen 50 Menschen saßen, stand draußen die Stadt in Flammen. Es sind Tage im April, die vom Irrsinn dieses zu Ende gehenden Krieges erzählen. Tage in unerträglicher Ungewissheit darüber, was ist und was sein wird.
Vor 70 Jahren waren amerikanische Soldaten bis zur Mulde vorgerückt und beschossen Raguhn. Am 15. April besetzte die US-Armee den Westteil der Stadt. Schon in den Wochen zuvor waren die Granateneinschläge, das Wummern und Schießen, kilometerweit zu hören, Flugzeuge überflogen die Region. Die Raguhner konnten Dessau brennen sehen. Und dann kam der Krieg in ihre eigene Stadt: Panzer rückten an, Soldaten feuerten, Tiefflieger warfen Minen und Bomben ab. Vor allem die Altstadt stand tagelang unter Beschuss.
Deutsche Soldaten schossen zurück, verbreiteten Durchhalteparolen.
In den Kellern bangten die Einwohner um ihr Leben - wie Ingeborg Hermann in Kleckewitz und Ingeborg Reuter in Raguhn. Sie waren erst zwölf Jahre alt, als sie ein Stück ihrer Kindheit verloren. „Wir hatten in Raguhn und Kleckewitz richtigen Krieg. Zwölf Tage und Nächte“, erinnert sich Ingeborg Hermann.
Mutter schwer krank
Ihre Mutter war schwer rheumakrank, die Tochter kümmerte sich allein, seit Vater und Schwester im Krieg waren.
Ingeborg Reuter saß mit ihrer Mutter im Keller des Hauses in der Dessauer Straße, als plötzlich der Vater schwer verwundet zurückkam. Er war noch kurz zuvor vom Volkssturm eingezogen worden, doch er wollte zu seiner Familie. Als er über die Hallesche Straße rannte, traf ihn ein Panzer-Geschoss an der Hand. „Meine Mutter legte einen Verband nach dem anderen an“, so Reuter. „Über viele Stunden, ich weiß nicht mehr wie lange. Und draußen wurde weiter geschossen.“ Zwei US-Soldaten flehte die Mutter um Hilfe an, doch die nahmen die Eltern mit. „Ich hatte furchtbare Angst. Für mich waren das ja Feinde.“ Irgendwann kam die Mutter zurück, der Vater wurde in einem Notlazarett in der Nähe von Köthen operiert.
Über die letzten Tage und Wochen des Krieges in und um Raguhn hat die Ehefrau des damaligen Pfarrers der Stadt Tagebuch geführt. Emilie Müller-Zadow betreute Verwundete, zunächst im Raguhner, später im Kleckewitzer Pfarrhaus. Mit Unterstützung des Raguhner Heimatvereins gibt die MZ einen Auszug.
Die Artillerie- und Panzergefechte gehen den ganzen Tag. Die Vorstellung, dass der Gegner in fünf Minuten Entfernung am Muldeufer sitzt, geht noch nicht richtig in uns ein. Eine Stunde nach Mitternacht fahren wir durch heftige Einschläge aus dem Schlaf. Gegen 5 Uhr endlich Feuerpause.
Am Vormittag setzt wieder starker Beschuss ein, der nun pausenlos viele Stunden hindurch geht, Artillerie, Panzer, Granatwerfer. Die Kirche brennt nochmals. Große Brände auf dem Kirchhof und seiner Umgebung. Bei den Soldaten ist es jetzt eine verzweifelte Stimmung. Einige wüten gegen den Wahnsinn, dass hier so lange verteidigt wird, andere sind grenzenlos erbost über die Bevölkerung, die sie in ihren Schützengräben beschimpft und mit Steinen beworfen hat, weil durch die lange Verteidigung die Stadt geopfert wurde. Manche weinen vor Zorn und Scham. Alle kennen sie nun den Krieg. In dieser Stunde verfluchen sie ihn. Der Doktor war über den Steg an der Mühle nach Kleckewitz gegangen und hatte dort im Pfarrhauskeller einen Raum als Sanitätsstation beschlagnahmt.
Die Menschen sind hier ohne Disziplin, einer voller Hass auf den anderen, der ihm den Platz nimmt. Wohin man hört, nur Schreien und Schimpfen. Es ist eine vollkommene Hölle.
Aus Raguhn erfahren wir, dass die Lage dort wenig verändert ist. Ein Teil der Infanterie hat sich nach der Kleckewitzer Seite zurückgezogen und sich dort in Schützengräben eingegraben. In Raguhn beobachten wir neue Brände.
Mitten in dem nächtlichen Soldatenbetrieb wird aus Raguhn eine Hochschwangere zur Entbindung gebracht. Der Doktor macht eine Zangengeburt, um die Frau wieder aus dem Keller zu bekommen. Die Soldaten drehen sich solange um. Es geht alles gut.
Wir bringen zunächst die Wöchnerin und das Kindchen im Schulhauskeller unter. Die kleine Lehrerstochter bettet den Säugling in ihrer Puppenwiege. Später kommt der Vater und berichtet, dass die Altstadt von den Amerikanern besetzt ist. Während des ganzen Tages Artilleriegefechte. Einige Male schießt die deutsche Artillerie nach Raguhn hinüber. Plötzlich zwei kurz aufeinander folgende starke Explosionen. Draußen hören wir laute Schreie. Das Schulhaus ist eingestürzt.
Wir schaffen die Toten auf den Friedhof und versorgen die Verschütteten. Keine Geschütztätigkeit, nur sehr viele Flugzeuge. Ein Arbeiter berichtet, dass in Zschornewitz der Russe eingezogen ist.
Ich fasse den Gedanken, nach Raguhn zu gehen. Als ich in die Nähe der Mulde komme, pfeifen drei Kugeln über mich hinweg. Kriechend, dann springend und mich wieder hinwerfend, begebe ich mich auf den Rückweg. Ein paar Stunden später sind die ersten Amerikaner im Dorf.
Tagelang brannte es in der Stadt, Trümmerhaufen lagen in den Straßen. Tote und Verletzte waren zu beklagen. Alle Versuche, die Kämpfe zu beenden, weiße Fahnen zu hissen, verhinderten deutsche Soldaten mit vorgehaltener Waffe. Aus Quellen geht hervor, dass 56 überwiegend junge Männer und 26 Einwohner von Raguhn ums Leben kamen.
„Ich habe eine ganze Menge Elend gesehen“, sagt Hermann. Und niemals wird sie vergessen, was sie in Kleckewitz sah. Versehentlich hatten deutsche Soldaten einen Stapel von Minen an der Friedhofsmauer hochgehen lassen. Die Explosion ließ die Schule einstürzen. „Soldaten mit unsäglichen Verletzungen wurden im Pfarrhaus-Lazarett behandelt.
Es war schockierend.“ Als sie morgens nach draußen ging, lagen dort Leichen und Teile von Menschen. „Ich habe zum ersten Mal Körperrümpfe gesehen, ohne Beine, Arme und Kopf.“
Am 24. April zog die US-Armee in Raguhn ein, Häuser wurden durchsucht, Gefangene genommen. Am 29. April konnte Ingeborg Reuter mit ihrer Mutter in die Wohnung heimkehren. „Einige Tage später kam mein Vater endlich. Mit dickem Verband und ganz blass stand er in der Tür. Das war so ein Glücksmoment.“
Schwester kehrte heim
Nun musste es irgendwie weiter gehen. Doch wie? Was sie gegessen haben, weiß Hermann gar nicht mehr so genau. Aber dass sie in Kleckewitz verzweifelt waren, daran erinnert sie sich. „Wenn Vater oder Schwester aus dem Krieg zurückkommen, dann hängt sich einer von uns auf“, sagten sie sich. Weil sie nicht mehr konnten. Und dann klopfte es an einem Pfingstabend ans Fenster: der Vater. „Wir fühlten uns wie neu geboren. Da dachte keiner mehr ans Aufhängen.“ Es wurde einfacher, auch die Schwester kehrte heim. Sie räumten auf, bauten im Garten an. Die Kinder lasen Ähren und mahlten Weizen bei Landwirten, es gab Kuchen aus Kaffeesatz und Bonbons aus Margarine und Zucker. Als Hermann im Juni 13 Jahre alt wurde, schenkte ihr eine Frau zehn Eier. „Das war meine größte Freude.“
Im Oktober - die Russen waren neue Besatzer - begann mit der Schule so etwas wie ein Alltag. Es ging irgendwie weiter, die Erlebnisse verblassten langsam. Ingeborg Hermann und Ingeborg Reuter besuchten in Raguhn eine Klasse. Die erste Tanzstunde kam, der erste Freund, Familie. Hermann wurde Industriekauffrau, Reuter praktizierte bis zu ihrer Rückkehr nach Raguhn als Ärztin in Hildburghausen. Die Frauen blieben sich verbunden, schrieben Briefe und sehen sich heute regelmäßig.
Die Tage im April 1945 bleiben eine Zeit, die beide geprägt, aber nie verbittert hat. „Ingeborg Hermann war schon immer erwachsener“, sagt ihre Freundin. „Und du warst vielleicht ein wenig zarter“, erwidert die andere. Beide sind trotz allem lebensbejahend aus dieser schweren Zeit gegangen. Doch sie hat auch eine Haltung hinterlassen: „So einfach das klingt: Der Frieden ist das höchste Gut. Das müssen wir schützen, schon im Kleinen“, sagt Reuter. Bis heute können sie kein Essen und keine Kleidung wegwerfen. „Ja, wir haben viel ertragen müssen“, sagt Hermann. „Der Krieg war schrecklich. Auch die Jahre danach waren Hungerjahre. Aber das war eben so. Es war unser Leben. Es ging einfach immer irgendwie weiter.“ (mz)


