Das große Pulverfass vor der Haustür
Braunsdorf/MZ/teo. - Auf jeden Fall hatten viele Vorfahren derer, die beim 5. Braunsdorfer Heimatabend im Gemeindehaus dem Vortrag des Ortschronisten Fritz Kulwatz über das Sprengstoffwerk folgten, durch das Unternehmen Lohn und Brot. "Ohne die Wasag hätten sich Reinsdorf und Braunsdorf nicht so entwickelt", meint auch Ingeborg Polenz, deren Großvater das Werk mit aufgebaut hat. Und Rosemarie Kulwatz, deren Vater und Großvater ebenfalls mit der Wasag verbunden waren, pflichtet ihr bei: Durch das Werk hatten die Wittenberger Vororte schon beizeiten eine gut ausgebaute Infrastruktur.
Ohne die Wasag hätte aber Paul Ernst wahrscheinlich seinen Vater noch kennen gelernt. Die Mutter war mit ihm schwanger, als am 13. Juni 1935 eine schwere Explosion die Gegend erschütterte. Ernsts Vater, Betriebshandwerker, wurde von einstürzenden Mauern erschlagen, als er einen Kollegen aus dem Inferno retten wollte. Und selbst seine Mutter, erzählt Paul Ernst, ist dem Tod um Haaresbreite entgangen, indem sie just in der Sekunde den Kopf aus dem Fenster zurückzog, als der Rollladen nieder krachte.
100 bis 120 Menschenleben hat die Katastrophe gefordert, die genaue Zahl der Toten sei nie veröffentlicht worden. Es gab etwa 90 Schwer- und über 600 Leichtverletzte. In Reinsdorf und benachbarten Orten hat sie "die schwersten Zerstörungen seit dem Dreißigjährigen Krieg" angerichtet. Die von Kulwatz herumgereichten Fotos zeigen zerstörte Gebäude in Braunsdorf und die riesigen Eisenteile, die kilometerweit durch die Luft geflogen waren. Ein großer Behälter soll es bis zum Gasthaus "Stadt Brandenburg" geschafft haben.
Es war wohl der größte, aber lange nicht der erste Störfall in der Wasag und bemerkenswerter Weise ereigneten sich die größten Unglücksfälle fast in einem zehnjährigen Turnus: am 4. März 1925 mit drei Toten, am 11. August 1915 mit ebenfalls nur geschätzten 56 Toten (24 davon sind auf dem Friedhof Braunsdorf beigesetzt, woran noch eine Tafel erinnert), am 28. Dezember 1905 mit acht Toten.
Ein Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg hätte für Wittenberg zum Supergau werden können. Dass die Anlagen beim Tieffliegerangriff am 20. April 1945 verschont blieben, wird damit erklärt, dass ausländisches Kapital in der Gesellschaft steckte. Die Demontage dauerte vier Jahre und blieb auch nicht ohne Unglücksfälle.