Bitterfeld Bitterfeld: Überrascht von Gelb-Blau
dessau/MZ. - Bila Zerkwa - zu Deutsch "Weiße Kirche" - so die Stadt, aus welcher ein junger Ukrainer stammt, welcher seine Zelte schon seit 2003 gemeinsam mit den Eltern in Deutschland aufgeschlagen hat. Dmytro Nesterovskyy ist - wie sollte es in diesen Tagen anders sein - mit Leib und Seele Fußballer.
Der dünne Schlacks wohnt in Dessau und kickt seit kurzem beim SV Germania Roßlau. Die ersten fußballerischen Schritte hier machte Dima - so rufen ihn alle - beim SV Dessau 05 in der Verbandsliga. Mit dessen Oberligaaufstieg ging es in den Landkreis Anhalt-Bitterfeld, wo er schöne Jahre in drei verschiedenen Vereinen durchleben sollte.
Rückkehr für drei Jahre
Der technisch beschlagene Mann heuerte bei Union Sandersdorf unter dem damaligen Trainer Michael Rehschuh an, bevor es ihn zu Studien- und Arbeitszwecken wieder zurück in die Heimat zog. Für dreieinhalb Jahre ging es nach der WM 2006 wieder in die Ukraine. "Mir war es hier in Deutschland zu ruhig, ich wollte was erleben", so der heute 27-jährige. Etwa 80 Kilometer südlich der Hauptstadt Kiew liegt Bila Zerkwa, und diese zählt immerhin auch knapp 200 000 Einwohner. Dort arbeitete er an einem Modemagazin, handelte mit gebrauchten Autoreifen und gestaltete die gelben Seiten seiner Stadt - Geschäfte machen zum Leben und auch manchmal zum Überleben. So charakterisierte Nesterovskyy die Situation, als er plötzlich auf eigenen Füßen wieder in der Ukraine lebte.
Nun aber läuft sie - die große und mit Spannung erwartete Europameisterschaft 2012 - und das in seinem Land. Die Gazetten zerreißen sich über die Lage in beiden Austragungsländern, empfinden Polen als reif für die Spiele, während man der Ukraine eher skeptisch gegenüber steht. Die orangene Revolution im Jahr 2004 scheint unter Präsident Wiktor Janukowytsch von der Gegenwart eingeholt, Machtspiele und Korruption haben das Land fest im Griff. Der Wahl-Dessauer glaubt, dass seinen Landsleuten die Mentalität fehlt, welche sie Richtung Westeuropa trägt. "Wir haben schöne Erde, das Meer, die Leute haben goldene Hände. Doch man lebt in den Tag, sieht nur das Heute, kennt Vorsorge wie Lebensversicherung oder Riesterrente wie hier in Deutschland nicht", erklärt der junge Kicker. Das war auch ein Grund seiner Rückkehr. Zuvor an der Universität in Leipzig studierend, wurde ihm all das wilde Leben in der Heimat nun zuviel.
Fußballerisch hatte er in der Region in vielen Vereinen Spaß. Das Klima in Friedersdorf stimmte, Vorwärts Dessau hatte die tollsten Fans und auch jetzt in Roßlau passt alles. "Die dreieinhalb Jahre in Sandersdorf waren wie in einer großen Familie und mit Union in der Verbandsliga natürlich das Höchste", denkt Nesterovskyy gern zurück.
"Die schönsten Frauen"
Nun schaut er die EM hier in Deutschland und dachte nicht, dass es die Ukrainer um Trainer Oleg Blochin weit bringen werden. "Andriy Shevchenko ist eine Legende daheim. Doch seine Zeit - sprich seine Schnelligkeit - ist Vergangenheit und viele andere Spieler meiner Heimat spielen in ihrem Klubs nicht einmal in der Stammelf", so Nesterovskyy, bevor er den Sieg gegen Schweden und eben zwei Shevchenko-Tore feierte. Nesterovskyys Jugendtrainer sagte einmal zu ihm: "Wenn du nicht gut spielen kannst, musst du halt mehr laufen". Und genau das erwartet er von seinen Gelb-Blauen, für die im Turnier noch alles möglich scheint - erst Recht nach der Regenschlacht Freitagabend gegen Frankreich.
"Schön wäre es, wenn die Touristen aus Deutschland und Westeuropa am Ende von dieser EM gedanklich mitnehmen, dass sich hier nicht alles um Matroschkas und Balalaikas dreht, und das wir die schönsten Frauen der Welt haben", schmunzelt der Fußballer. Den letzten Aspekt, das spürt man, meint er ziemlich ernst.