Avital Gerstetter Avital Gerstetter: Jüdische Vorbeterin im Frauensalon
Wittenberg/MZ. - Aha, mag manche Anwesende beim Anblick von Avital Gerstetter denken: So sieht also die Kantorin einer jüdischen Gemeinde aus. Rassig, feminin, intellektuell. Der Blick aus großen Augen ist ernst, bisweilen provokant. In einem Nest aus blonden Locken thront eine Kippa, wie sie jüdische Männer tragen - als Zeichen der Achtung vor dem Allmächtigen. "Es steht aber nirgends geschrieben, dass Frauen das nicht dürfen", klärt Gerstetter auf.
Am Dienstag Abend ist die Berlinerin von der Spree an die Elbe gekommen. Sie ist zu Gast im Wittenberger Frauensalon, einer noch jungen Reihe, deren Mütter - Cornelia Dömer (Lutherzentrum), Christine Mähler (Israel-Koordinierungsbüro) und Katharina Doyé (Evangelische Akademie) - an die Tradition der Salongespräche des 18. Jahrhunderts anknüpfen wollen. Damals trafen in den Salons interessierte und interessante Menschen aufeinander. Im Prinzip ist das am Dienstag ähnlich.
Avital Gerstetter jedenfalls ist eine ebenso interessante wie spannende Persönlichkeit und im Angesicht der gut 20 Zuhörerinnen darum bemüht, die Rolle der Frau im Judentum plausibel zu machen.
Dass dies nicht ganz einfach ist, zeigen die vielen Fragen, die von Anfang an gestellt werden und insbesondere auf eine Religion abzielen, die den meisten Anwesenden doch sehr fremd sein mag. Da wird verwundert zur Kenntnis genommen, dass jüdische Frauen außerhalb des häuslichen Bereichs lange Zeit kaum Rechte besaßen. Fassungsloses Kopfschütteln hier. Bemerkungen von Frauen wie "Typisch Männer" dort. Eine Besucherin weist darauf hin, dass es den Frauen im christlichen Abendland kaum besser ging. Auch deren Wirkungsbereich konzentrierte sich lange auf Kinder, Küche, Kirche, und die Emanzipation ließ auf sich warten. Das Wahlrecht für Frauen etwa wurde erst 1918 in Deutschland durchgedrückt, um nur ein Beispiel zu nennen.
Wie progressiv inzwischen das Judentum ist - von einzelnen Strömungen abgesehen -, beweist natürlich Avital Gerstetter, die als Vorbeterin den Gottesdienst in der Synagoge der Oranienburger Straße zu Berlin leitet. Dass sie die erste ausgebildete Kantorin einer jüdischen Gemeinde in Deutschland ist, betont sie nicht ohne Stolz und berichtet von ihrer "Entdeckung" im Jahr 1997. Damals sang die junge Frau, die bereits in Jerusalem und Berlin studiert hat, bevor sie die Ausbildung nach New York antrat, im Synagogen-Chor einer Berliner Gemeinde.
Eindrucksvolle Kostproben ihres Gesangs gibt es auch in Wittenberg. Gegen Ende des Treffens lässt Avital Gerstetter dann endlich "Fragen zur Person" zu, worauf anscheinend die Mehrzahl der Besucherinnen gewartet hat. Als was sie sich fühlt?, will jemand wissen. "Als deutsche Jüdin", lautet die knappe Antwort. Und wie war das im Dritten Reich? Gerstetter: "Viele Verwandte sind im Holocaust umgekommen." Ob sie sich an die Schabbatregeln hält und - wie etwa bei den Orthodoxen in Jerusalem zu erleben - das Auto an diesem Tag stehen lässt? Ja, sie halte die Regeln ein, aber sie würde auf den Gebrauch des Wagens nicht verzichten. Erstens: "In Berlin ist nicht an jeder Ecke eine Synagoge." Und zweitens: Avital Gerstetter ist eben eine moderne Frau.
Die Reihe "Wittenberger Frauensalon" soll im Herbst mit anderen Themen fortgesetzt werden. Telefonische Informationen unter 03491/49 88 11.