Auslaufmodell Ortschronist? Auslaufmodell Ortschronist?: Für Helmut Ernst aus Jeßnitz ist kein Nachfolger in Sicht

Jeßnitz/Sandersdorf - Sie sind das Gedächtnis der Generationen: die Raguhnerin Ursula Borstorff (93), der Jeßnitzer Helmut Ernst (82) ... Sie blicken auf das, was war und sind selbst Teil der Geschichte. Sie recherchieren, reden mit Zeitzeugen, vergleichen, werten aus, ordnen ein, halten fest ...
Nicht, weil sie es müssen, sondern weil sie es wollen. Doch sorgenvoll schaut Heimatforscher Helmut Ernst in die Zukunft. Denn: „Ein Nachfolger ist für mich nicht in Sicht“, sagt jener Mann, der wohl jeden Stein in Jeßnitz schon einmal umgedreht hat. „Was wird dann mit unserem kulturellen Erbe?“
Mit dieser Frage beschäftigt sich inzwischen auch der Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Dessen Geschäftsführerin Annette Schneider-Reinhardt schätzt die Zahl der Ortschronisten zwischen 800 bis 900. Tendenz: Es werden von Jahr zu Jahr weniger.
„Heimatgeschichtliches Engagement ist arbeiten am kulturellen Gedächtnis“
Um das genau zu ermitteln, werden derzeit Neuerfassungen der aktiven einzelnen Ortschronisten und Heimatforscher vorgenommen. Das erfolgt im Rahmen eines Projektes in Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg, in dem auch die Qualifizierung von Engagierten im Bereich Heimatgeschichte sowie die Nachwuchsgewinnung im Mittelpunkt steht, informiert Schneider-Reinhardt. „Gefördert wird es von der Staatskanzlei/Ministerium für Kultur“, teilt sie weiter mit.
„Heimatgeschichtliches Engagement ist arbeiten am kulturellen Gedächtnis und daher von herausragender Bedeutung für den Erhalt kultureller Identität“, so sieht es die Geschäftsführerin. Und nicht nur sie. Anja Aschenbach ist Archivarin der Stadt Sandersdorf-Brehna. Sie weiß die Arbeit „ihrer“ Ortschronisten zu schätzen. Auch sie beobachtet zunehmend, dass der Nachwuchs auf sich warten lässt. „Aber wir brauchen Menschen, denen die Heimat am Herzen liegt.“ Sie seien oft auch die Quellen ihrer Arbeit. Anja Aschenbach fehle die Zeit, sich mit Thematiken so intensiv zu beschäftigen, wie es die Heimatforscher tun können. „Ich bin froh, dass wir sie haben.“
Es sei schon ein Unterschied, ob man Couch-Recherche betreibe oder mit Zeitzeugen spricht
Das findet auch Steven Pick, Mitarbeiter im Kreismuseum Bitterfeld. Er schätzt die Fachkompetenz, das Identitätsschaffende. Oft spiele eben der Faktor Zeit eine wichtige Rolle. Es sei schon ein Unterschied, ob man Couch-Recherche betreibe oder mit Zeitzeugen spreche, gar Archive aufsuche. Das Tätigkeitsfeld habe sich im Laufe der Jahre verändert. Das Internet biete ungeahnte Möglichkeiten. Hinzu komme: Es gebe immer weniger Einheimische, Menschen aus anderen Bundesländern ziehen aus den unterschiedlichsten Gründen hierher. „Der Heimatforscher ist eine aussterbende Spezies. Das muss ich ganz klar sagen“, meint Pick.
Oder gibt es doch noch Hoffnung? Die könnte Benny Berger heißen. Er ist 37 Jahre jung. Seine Leidenschaft: weiße Flecken in der Geschichte aufzuarbeiten - in der Region Anhalt-Bitterfeld. „Wenn man die historischen Umstände kennt, nimmt man die Umgebung ganz anders wahr“, sagt Berger. „Geschichte kann lebendig werden.“ Das zu erleben, sei ein ganz besonderer Moment für jeden Heimatforscher. (mz)
Die noch immer weit verbreitete Tradition des Schreibens von Ortschroniken geht in den ostdeutschen Bundesländern auf einen Erlass des Ministeriums des Inneren der DDR vom 16. März 1955 zurück.
Unberücksichtigt ideologischer Voraussetzung entstand in den Folgejahren ein dichtes Netz ortschronistischer und meist in Personalunion heimat- beziehungsweise ortsgeschichtlicher Tätigkeit. Die Beauftragung eines Chronisten war für jede Kommune verpflichtend. Über den Kulturbund waren die Ortschronisten untereinander vernetzt.
Viele von ihnen arbeiten heute ohne institutionelle Einbindung vor Ort oder sind als Einzelmitglieder im Landesheimatbund organisiert. Der zählt derzeit 6.000 Mitglieder. Quelle: Landesheimatbund