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Alter Schreibschrift Sütterlin Alter Schreibschrift Sütterlin: Vergessen und verschwunden

Von Melain Müller 02.06.2014, 17:37
Die Zeit ist darüber hinweg gegangen: Was einst die ganz normale Alltagsschrift war, kann heute kaum noch jemand entziffern.
Die Zeit ist darüber hinweg gegangen: Was einst die ganz normale Alltagsschrift war, kann heute kaum noch jemand entziffern. andré kehrer Lizenz

Wolfen/MZ - „Ich bin total ausgebombt“ - nicht mehr als ein Fragment, nicht mehr als ein kleiner Hinweis auf die Lebensumstände jener Zeit. Stefanie Marx kann nur diesen ersten Teil des Satzes lesen, danach verschließt ihr die Schrift den Inhalt. Der Brief ist in Sütterlin geschrieben, der alten deutschen Schreibschrift. Nur noch wenige haben sie in der Schule gelernt. Stefanie Marx’ Großmutter Betty Louise Florek gehörte zu jenen. Genau wie die Frauen der Sütterlinstube der Paul-Riebeck-Stiftung aus Halle, die sich und ihre Arbeit im Mehrgenerationenhaus in Wolfen vorgestellt haben.

Anita Hohmann, Brigitte Tertsch und Ursula Nitschke sind Mitglieder der Sütterlinstube und übertragen zusammen mit etwa 30 weiteren Senioren die alte deutsche Schreibschrift in die uns bekannte und heute verwendete lateinische Schrift. Ehrenamtlich engagieren sich die Senioren, die zwischen 1924 und 1941 die Schrift noch erlernt haben, um das kulturelle Erbe zu wahren. Sie übersetzen alles Mögliche in die lateinische Schrift: Von Rezepten über Auszüge aus Kirchen- oder Tagebüchern bis hin zur Feldpost aus dem Zweiten Weltkrieg.

Und eben solche Post hält Stefanie Marx in der Hand. Sie blättert darin und holt einen der Briefe heraus. Sie schüttelt den Kopf. Es sind Briefe, die an ihre Großmutter Betty Louise Florek gerichtet sind. Ein großer Teil stammt von ihrem damaligen Mann, der in den Krieg gezogen war und von dort nicht zurückkehrte. „Da steckt ein Stück Leben drin“, sagt Marx.

"Das ist schon ein kleiner Schatz"

Sie erzählt von ihrer Großmutter, die 1907 geboren und erst 2003 verstorben ist. Sie hat der Enkelin viel aus ihrem Leben berichtet, aus der Zeit des Kaiserreichs, des Krieges und später der DDR. Und dann hat sie ihr diese Briefe vermacht.

Anita Hohmann hat die Verse mit nach Halle genommen und an die Mitglieder verteilt. Jeder Brief wird einzeln gelesen und übersetzt. Oftmals ist das bei alten Dokumenten, die mit Bleistift geschrieben wurden, nicht so einfach. Namen und Orte seien schwer zu entziffern, erklärt Ursula Nitzschke im Mehrgenerationenhaus. Auch weil es viele Orte nicht mehr gibt.

Gleich vor Ort wirft sie jedoch einen Blick auf die Widmung von 1899 in einem Buch über Otto von Bismarck. Mit schwarzer Tinte hat der Verfasser die Buchstaben fast schon malerisch auf das Papier gebracht. Es wirkt wie gedruckt, aber tatsächlich sind diese geschwungenen Buchstaben charakteristisch für Sütterlin. Roswitha Aßmann hat das Buch vor langer Zeit erstanden und freut sich darüber, dass die Widmung nun entziffert werden kann. „Ich finde das sehr interessant“, so die Rentnerin. „Ich habe zu Hause noch Auszüge aus Kirchenbüchern, in der meine Ahnen aufgelistet sind. Die schicke ich demnächst nach Halle.“

Während die Damen miteinander plaudern, blättert Stefanie Marx noch immer in ihren Briefen. „Ich habe ein schlechtes Gewissen, sie wegzugeben. Es ist die Post eines Mannes an seine Ehefrau. Das ist persönlich und man weiß nicht, was einen erwartet.“ Am Ende wählt Marx nur ein paar Umschläge und übergibt sie schweren Herzens. „Das ist schon ein kleiner Schatz.“

Das weiß auch Anita Hohmann von der Sütterlinstube. „Uns ist es lieber, wenn die Leute uns nicht das Original geben. Es sind ja Schätze.“ Allerdings erkenne man am ehesten noch beim Original, was der Verfasser da geschrieben hat. Einscannen und Vergrößern verschlechtere oftmals die Qualität.

Über zehn Jahre haben die Briefe bei Stefanie Marx im Schrank gelegen, in einer Schachtel aus Pappe, die auch schon zerfällt. Nun will sie wissen, was in den Briefen steht, trotz schlechtem Gewissen. „Aber sie hat sie mir ja auch hinterlassen“, sagt Marx. Auf einem der Umschläge hatte ihre Großmutter kaum lesbar etwas vermerkt: „Seit 1944 keine Post mehr erhalten“. Sie meint ihren Ehemann, der 1951 für tot erklärt wurde.

Senioren
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Widmung in einem alten Buch
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Ein Feldpostbrief in Sütterlin
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