1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Bitterfeld-Wolfen
  6. >
  7. 17. Juni 1953: 17. Juni 1953: Panzer auf der Kreuzung

17. Juni 1953 17. Juni 1953: Panzer auf der Kreuzung

16.06.2003, 13:43

Wittenberg/MZ. - Die angesetzte Betriebsversammlung am 17. Juni 1953 beim VEB-Nagema-Mühlenbau in Wittenberg hatte es in sich. Als Dreher-Lehrling kam ich in die große Montagehalle. Heftiger Lärm und Rufe wie "Runter mit den Arbeitsnormen" und "Wir streiken" überraschten die Früh-Schichtler als völlig Ahnungslose total.

Unter Führung unseres Schmiedes wurde kurz entschlossen ein Streikrat von der Belegschaft demokratisch gewählt. Meines Wissens waren etwa zehn Punkte von den Kollegen angenommen worden wie der Ruf nach "Neuwahlen in der DDR" und "verbesserten Lebensbedingungen". Ständig wurden die neuesten Nachrichten - abgehört im Rias sowie Telefongespräche mit anderen Betrieben in der Region - über Unruhen und Aufstände bekannt gegeben. Lauter Jubel brach dann los und der Funke sprang über.

Mit einem Mal ergriff der Betriebsdirektor, Ingenieur Finke, das Wort und er bat die wohl über 500 Betriebsmitglieder eindringlich, im Werk keine Schäden anzurichten, denn wir würden uns nur selbst schaden. Die Aufforderung des Betriebsleiters wurde von der neuen Streikleitung unterstützt und die Belegschaft aufgefordert, nach dieser Versammlung auf die Straße zu gehen und in der Stadt zu demonstrieren. Übrigens flüchtete Finke in Anbetracht der zu erwartenden Repressionen später mit seiner Frau nach Westberlin.

Für uns gab es nur eins zu tun: Hin zum Marktplatz beim Rathaus. Auf dem Weg dorthin waren Plakate der sowjetischen Militäradministration in deutsch und russisch angebracht und darin wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. In einer Garnisonsstadt wie Wittenberg eine eindeutige Drohung an die Mitbürger. Auf dem Marktplatz etwa gegen 17 Uhr waren einige Tausend heftig diskutierende Mitbewohner in Gruppen vereint.

Neue Berichte über die Befreiung politischer Gefangener in den Nachbarstädten machten die Runde. In kleinen Gruppen auftauchende Volkspolizisten wurden angepöbelt und zum Streik aufgefordert. Teilweise verloren die Vopos ihre Kopfbedeckungen. Eigentlich kam es aber nicht weiter zu Handgreiflichkeiten gegenüber der Staatsgewalt. SED-Parteimitglieder, die uns bekannt waren, hatten klugerweise ihre Parteiabzeichen hinter das Revers gesteckt. Auf meinem Nachhauseweg kam ich an der Hauptpost vorbei. Auf dem Fußgängerweg fuhren T-34 Panzer auf, drehten sich einige Male im Kreis und die Panzerrohre bedrohten uns. Diese Kreuzung war unter Kontrolle der Russen.

Sowjetische Soldaten fuhren in gepanzerten, offenen Mannschaftswagen voll bewaffnet und geduckt durch die Hauptstraßen der Innenstadt. Als ich zu Fuß die Gagfah-Siedlung passierte, kamen drei Männer in Zivil auf mich zu und nahmen mich in ihre Mitte. Sie fragten mich in barschem Ton, ob ich Peter Brandenburger sei. Ich verneinte dies. Mir war sofort klar, dass mein Kollege und Streikleitungsmitglied Brandenburger die Verhaftung drohte. Kurze Zeit später wurde er fest genommen. Nach einigen Tagen bei den Russen war er wie verwandelt und ganz auf die neue Parteilinie eingeschwenkt.

Zu Hause angekommen, berichtete meine Mutter ganz aufgeregt, dass sie als Kranführerin bei Gresse von Rotarmisten mit vorgehaltener Maschinenpistole zur Arbeit gezwungen wurde. Sie musste der Gewalt weichen und alle anderen Kollegen bei Gresse auch. Ein Blick aus dem Fenster unserer Wohnung in der Berliner Straße nach der Sperrstunde konnte uns teilweise Genugtuung verschaffen: Rotarmisten trieben auch einige uns bekannte SED-Bonzen in Richtung sowjetische Kommandantur. Die SEDler protestierten heftig, die Russen waren stur und auch grob und aus den Fenstern kamen nicht gerade freundliche Worte den Festgenommenen zu Ohren.

Über unser Radio versuchten wir am Abend den Rias zu empfangen. Jedoch der sowjetische Störsender in Trajuhn auf der Anhöhe störte die Sondersendungen gewaltig. Die Staatsgewalt in Wittenberg war aber offensichtlich in die Hände der Roten Armee übergegangen.

Am Morgen des 18. Juni kam ich wohlbehalten im VEB-Nagema an. Wir streikten im Werk und standen in Gruppen zusammen, um die neuesten Nachrichten auszutauschen. Mit einem Mal kamen viele so genannte "Aufklärer der Nationalen Front" und forderten uns auf zu arbeiten. Trotzdem haben wir zwei Tage gestreikt und was war die Folge? Jedem Streikenden wurden zwei Urlaubstage abgezogen. Die zehnprozentige Normerhöhung bei gleichem Lohn wurde zurück genommen! Im Werk fand etwa alle vier bis sechs Wochen ein Verkauf von teilweise Westwaren statt. Einige Parteifunktionäre hatten offensichtlich Kreide gegessen und taten ziemlich kollegial.

Das SED-Regime und ihre nachgeordneten Organe waren eigentlich abgetaucht und nur die nachhaltige Drohung und Präsenz der sowjetischen Streitkräfte hat diese Regierung gerettet.