Unwetter Unwetter: Erinnerung und Hoffnung
peissen/MZ. - Dagmar Harder sitzt in ihrem Wintergarten. Auf dem Tisch liegt eine Tischdecke, an der Wand hängen Fotos ihrer Enkeltochter und beim Blick aus dem Fenster sieht sie viel Grün. Es scheint eine echte kleine Idylle in der kleinen Gemeinde Peißen am Blumenweg.
Dagmar Harder sieht beim Blick aus dem Fenster ihrem Wintergarten aber auch eine Holzskulptur, die sie an die Ereignisse von vor einem Jahr erinnert: an den 11. September 2011, als ein Tornado durch Peißen zog und eine Schneise der Verwüstung hinterließ.
"Das war hier ein richtiges Schlachtfeld", sagt Dagmar Harder. Mit dem Bau des Wintergartens, in dem sie jetzt sitzt, hatten sie und ihr Mann Rolf erst im August begonnen. Es sollte der Abschluss des Hausbaus, ihres "Lebenswerkes", wie sie selber sagt, sein.
Die 56-jährige Grundschullehrerin war an jenem 11. September allein zu Hause, ihr Mann weit weg, in Norwegen, wo er als Tischler arbeitet. Es sei den ganzen Tag schwül gewesen, erinnert sich Dagmar Harder. "Man hat geahnt, dass sich ein Gewitter anbahnt." Doch was sich dann am Himmel zusammen braute, übertraf ihre Erwartungen.
"Es kam über uns mit einer unglaublichen Wucht. Es war alles grau, alles dreckig. Alles flog durcheinander", versucht sie ihre Eindrücke in Worte zu fassen. Die Hagelkörner prasselten auf das Dach, verbeulten Rollläden und durchschlugen Fensterscheiben. Sofort drang Regenwasser durch das kaputte Dach ein. "Ich hatte richtige Angst", erzählt Dagmar Harder. Sie telefonierte mit ihrem Mann und informierte die Tochter, die sofort aus Gröna kam, um ihrer Mutter zu helfen. Im Laufe des Abends kamen noch mehr Helfer, um das Dach notdürftig mit Planen zu verschließen und die Pfützen im Haus aufzuwischen. "Ich habe alles genommen, was ich in die Hand bekam: Handtücher, Decken von der Couch, usw.", erzählt Dagmar Harder.
Bis drei Uhr morgens waren sie und ihre Helfer im Einsatz. Aber auch danach war nicht an Schlaf zu denken. "Ich war viel zu aufgeregt", sagt sie. Und erst am nächsten Tag - ihr Mann hatte sich zwischenzeitlich von Norwegen auf den Weg nach Deutschland gemacht - war das ganze Ausmaß des Unwetters zu sehen. Überhaupt habe sie erst nach und nach realisiert, was geschehen ist. In der oberen Etage waren das Schlaf- und ihr Arbeitszimmer stark vom Regenwasser beschädigt, das Gartenhaus zerstört, der gesamte Garten verwüstet.
Die Fichte, die Harders 1985, beim Bau des Hauses bekommen hatten, war auf der einen Seite wie "abrasiert". Sie drohte, umzustürzen. Daher entschlossen sich Rolf und Dagmar Harder schweren Herzens, den Baum fällen zu lassen. Eigentlich, sagt Dagmar Harder, hatten sie sowieso vor, den Baum zu fällen und ihn der Stadt Bernburg für den Weihnachtsmarkt zu spenden. Doch auf diese Weise wollten sie den Baum nicht loswerden, den Rolf Harder viele Jahre gehegt und gepflegt hatte.
Sie begannen, den Schutt und das Grünzeug wegzuräumen, neue Fensterscheiben und Rollläden einzusetzen. Sie renovierten die obersten Zimmer und räumten das Mobiliar wieder ein und Mitte Oktober bekamen sie auch endlich wieder ein neues Dach. Auf mindestens 50 000 Euro beziffert Dagmar Harder den Schaden, der ihnen durch das Unwetter entstanden ist. Ja, die Versicherung habe vieles bezahlt. "Aber eben doch nicht alles."
In diesen schweren Zeiten, in denen Dagmar Harder schon ihr Lebenswerk zerstört sah, erfuhr die Familie aber auch eine große Welle der Hilfsbereitschaft. Verwandte und Freunde kamen aus Gröna, Alsleben und Beesenlaublingen, um dem Ehepaar aus Peißen beim Aufräumen zu helfen. Auch die Hilfe von Seiten der Feuerwehr, des Technischen Hilfswerks und der Stadt Bernburg sei überwältigend gewesen, erzählt Dagmar Harder.
Inzwischen ist der Schock überwunden und das meiste am Haus repariert. Die Fassade müsse noch gemacht werden und auch der Zaun soll erneuert werden, sagt sie. Aber ansonsten ist nichts mehr zu sehen von den schweren Schäden des Unwetters. Dennoch beschleicht Dagmar Harder noch heute ein mulmiges Gefühl, sobald ein Gewitter im Anmarsch ist. "Die Angst ist noch immer nicht ganz weg."
Auch der Garten ist wieder neu gestaltet. Jetzt allerdings mit einer Skulptur aus jenem Stamm, der von der Fichte übrig blieb. Sie bedeutet Erinnerung und Hoffnung zugleich. Sie zeigt einen Troll und einen Adlerkopf - symbolisch für die beiden Heimatländer der Harders (Norwegen und Deutschland) sowie das Datum 11.09.2011. Der Holzkünstler Olaf Jensen aus Magdeburgerforth (Jerichower Land) hat dieses Kunstwerk wenige Wochen vor dem Jahrestag mit einer Kettensäge angefertigt.
Freunde hatten sich von ihm vor einigen Jahren bereits ein Kunstwerk von Jensen anfertigen lassen, erzählt Dagmar Harder. "Da hat mein Mann gesagt, wenn die Fichte mal fällt, lassen wir das auch machen." Demnächst soll die Skulptur noch eine Tafel mit einem Gedicht erhalten, das Rolf Harder selbst geschrieben hat.