Gesundheit Gesundheit: Prothesen aus Bernburg finden Kunden in aller Welt

Bernburg - Franziska Wagners Hände liegen zusammengefaltet auf dem Tisch. Noch immer zittert die Stimme der 31-Jährigen, wenn sie erzählt, wie sie ihren Daumen verloren hat. Wie das Pferd aus dem Anhänger geholt werden sollte. Wie es durchging. Und wie sich der Strick um ihren Daumen legte, ihn um 360 Grad verdrehte. Knapp neun Jahre ist das her. Neun Jahre, in denen sie mit einer Prothese lebt.
„Ohne den Silikonfinger gehe ich nicht mehr aus dem Haus, sonst fühle ich mich nackt“, sagt Wagner. Zum einen aus kosmetischen Gründen. Zum anderen, weil die Prothese den Alltag erleichtert und ermöglicht, mit der linken Hand besser zu greifen. „Wenn du keinen Daumen hast, fehlt dir der Gegenspieler der vier Finger“, erzählt sie.
Man könnte es Ironie des Schicksals nennen, dass sie schon damals, zur Zeit des Unfalls, als Sachbearbeiterin im Sanitätshaus Klinz in Bernburg (Salzlandkreis) arbeitete. Einem der ganz wenigen Betriebe in Deutschland, die auf originalgetreue Silikonprothesen spezialisiert sind. Gründer Gerd Klinz machte Wagner direkt nach dem Unfall Mut und ließ den ersten Daumen für sie anfertigen. Filigran gearbeitet und täuschend echt. Sogar Nagellack hält auf den künstlichen Fingernägeln.
Die Prothesen können aber nicht nur Daumen, sondern ganze Körperteile ersetzen. So kommt demnächst ein Kind aus der Ukraine vorbei, das ohne Fuß geboren wurde. „Dort gibt es häufig sogenannte Amelien“, sagt Gerd Klinz. Er vermutet, dass das mit dem Atomunfall von Tschernobyl zusammenhängt. Das Kind ist jedoch kein Einzelfall. Das Unternehmen hat häufiger Kunden aus dem Ausland: Für die gibt es eine Rundumversorgung im Gästehaus, wenn den Patienten tagelang die Prothese angepasst wird.
Jede Prothese ist eine Einzelstück und kommt aus dem „Geheimlabor“, wie die Mitarbeiter die Silikon-Werkstatt nennen. Dort unten im Keller des Gebäudes, wo vom Trubel des Geschäftsbetriebes nichts zu spüren ist, sieht es aus wie in einem Künstleratelier. Dort gibt es ein Aquarium, einen Vogelkäfig. Es hängen Familienbilder an den Wänden. Auf der Fensterbank stehen Gipsabdrücke von riesigen Männerhänden und winzigen Babyfäusten. Neben drei Silikon-Brustwarzen steht eine Miniatur-Büste. „An sowas probieren wir uns handwerklich und künstlerisch aus. Silikon ist unglaublich vielseitig“, sagt Stefan Wandsleb.
Erst Praktikant, dann Techniker
Der 27-Jährige kam 2004 als Praktikant ins Unternehmen. Nach seiner Ausbildung zum Orthopädietechniker im niedersächsischen Duderstadt kehrte er 2010 ins Sanitätshaus Klinz zurück. „Ich hatte in meiner Ausbildung viel mit Silikon-Prothesen zutun und konnte mein Wissen einbringen“, erzählt der 27-Jährige. Er sieht sich nicht nur als Handwerker, sondern auch als Künstler. Und ein bisschen als Mediziner, was er von seinem Großvater, der Zahnarzt war, und seinen Eltern, die Apotheker sind, mitbekommen hat.
Wenn Wandsleb und sein Kollege Carsten Suhle im Geheimlabor arbeiten, läuft oft Musik im Hintergrund. Heute hört man nur die Vögel zwitschern und die Klimaanlage surren. Obwohl es im Keller eigentlich schon kalt genug ist. Doch die Klimaanlage an der Werkbank ist wichtig: Damit das Silikon verarbeitet werden kann, darf es nicht zu warm werden. Sonst härtet es aus. Die Rohmasse steht in Eimern auf dem Boden, fühlt sich an wie Knete und sieht auch so aus - nur farblos. Die Hauttöne muss Wandsleb anmischen, Nuance für Nuance. Beim Kneten würden sich die Farbpigmente, die mit einem Spatel aufgetragen werden, nicht gut genug verteilen. Wandsleb schiebt die Masse deshalb immer und immer wieder durch zwei schwere Walzen und rollt den Silikon-Fladen zusammen. Jedes Mal vergleicht er das Ergebnis mit einem Farbmuster, das er von den Patienten genommen hat. „Es darf nicht zu viel Farbe drin sein, sonst wirkt die Hand später so künstlich wie im Theater“, sagt Wandsleb. Maximal sieben Farbtöne werden beigemischt - in der Luxusausführung, die mehr als 10.000 Euro kostet und besonders fein gearbeitet ist. Es geht auch günstiger. Das Basismodell, das komplett von den Krankenkassen als Hilfsmittel bezahlt wird, ist schon für etwa 5.000 Euro zu haben. Der Unterschied der beiden Modelle ist leicht zu erkennen.
Stefan Wandsleb holt zum Vergleich den Prothesen-Koffer heraus. Darin liegt ein Horrorkabinett. Füße, Nasen, Finger, Ohren und etwa 15 Hände in verschiedenen Qualitäten. Bei den teuren Varianten werden die Fingernägel aus Acryl gefertigt und separat aufgesetzt, damit sie echt wirken. Falten und Handlinien sind besondere Details. „Die ritze ich aber nicht nachträglich ein“, sagt er. Die Feinheiten arbeitet er in einer Form heraus, in der die Silikonmasse gepresst und anschließend gebacken wird. Vieles ist Improvisation. Denn wer eine Prothese braucht, hat meist nur ein spiegelverkehrtes Gegenstück. Wandsleb macht dann aus der linken Hand eine rechte. „Deswegen ist es unbedingt nötig, dass die Patienten genau vermessen werden“, erzählt er. Die Proportionen müssen stimmen. Als Orientierung dient ihm ein Gipsabdruck.
Am wichtigsten ist, dass sich die Prothese an die verstümmelten Gliedmaßen anschmiegt. Ein Millimeter Luft ist schon viel. Die Patienten tragen deshalb ein Probemodell, ehe Wandsleb die richtige Prothese fertigt. Ein Prozess, der eine Woche reine Arbeitszeit bedeutet. Sich aber über Wochen hinzieht, weil die Kunden oft vorbeischauen müssen, etwa zum Anprobieren. Für ein Produkt, das zwei Jahre hält. Dann sind die Prothesen verschlissen.
Trotz des enormen Aufwandes verdient der Betrieb aus dem Salzlandkreis sein Geld woanders. Immerhin: „Mittlerweile sind wir so weit, dass wir damit keine roten Zahlen mehr schreiben“, sagt Gerd Klinz. Verglichen mit den anderen Produkten wie Rollstühlen, Schuhen und mechanischen Händen ist der Umsatz winzig, macht gerade einmal zwei bis drei Prozent aus. Klinz geht es nicht ums Geldverdienen, er will den Menschen helfen und das Leben erleichtern. „Es ist und bleibt ein Nischenprodukt, das für mich ein Aushängeschild ist.“
Patienten aus der ganzen Welt
Andere Firmen kaufen bei Klinz, Ärzte schicken ihre Patienten zu ihm. Viele kommen auch aus dem Ausland, so wie das ukrainische Kind. „Die Familie war vorher in Israel, aber mit der Qualität nicht zufrieden“, sagt Klinz. Konkurrenz aus Fernost oder Ländern, in denen die Prothesen wesentlich günstiger gefertigt werden können, fürchtet er nicht. Eben weil die Qualität nicht zu vergleichen sei.
Für Menschen, die mit der Behinderung leben müssen, ein entscheidendes Kriterium. Wie Franziska Wagner wünschen sie sich, dass ihr Handicap nicht auffällt und der Alltag so normal wie möglich wird. Ob nun ein Daumen oder eine Hand oder ein ganzes Bein fehlt. (mz)





