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Die Leimpinselschwinger vom Markt

Von Dieter Ebert und Kathrin Steinmetz 11.10.2006, 15:27

Bernburg/MZ. - Und gerade jetzt geht das erst recht nicht. Der Auftrag muss fertig werden.

Der 66-Jährige hat sich inmitten der Bernburger Buchbinderei Hesse in eine Wolke aus Kleberduft gehüllt. Routiniert und flink sausen die Hände über die Arbeitsplatte. Stoffstreifen einkleistern, Pappstreifen auflegen, Abstandshalter daneben, Buchdeckel ankleben. Wieder Abstandshalter - und der andere Buchdeckel. Rechts stapeln sich bereits die fertigen Buchrücken, links taucht der dicke Leimpinsel unermüdlich in seinen Topf. "Die Buchrücken sind für alte Personenstandsbücher von einem Standesamt aus der Börde", erklärt Hesse über den Rand seiner Lesebrille hinweg. Ansonsten mag er lieber weiter arbeiten, als Fragen zu beantworten. Das solle besser sein Sohn Matthias übernehmen. "Der ist jetzt hier der Chef."

Matthias Hesse führt seit 1998 die einzige Buchbinderei im Landkreis. Offenbar erfolgreich: In diesem Jahr feiert das Unternehmen seinen 100. Geburtstag. Aus Sicht der Nachwendezeit ein kleines Wunder, findet Joachim Hesse. "Die ganzen Sammler sind uns damals weggebrochen. Keiner wollte mehr seine Fachzeitschriften binden lassen." Hesse ging Klinken putzen. Unter anderem in Hamburgs Zentralbibliothek staubte er einen Großauftrag ab.

Aber auch, wer sich in der Magdeburger Bibliothek des Landtages niederlässt hat gute Chancen, einen echten "Hesse" aus den Regalen zu ziehen. Schon seit Jahren binden die Bernburger für Ministerien in Magdeburg Zeitschriften und Gesetzesblätter. "Das sind unsere Stammkunden, aber wir haben auch viele Leute aus der Region, die sich alte Kinderbücher, Bibeln oder Kochbücher neu binden lassen", erzählt Erna Hesse. Manch gutes und oft vor allem teures Stück ging schon durch die heilenden Hände von Vater und Sohn. "Deshalb können wir uns beim Binden im buchstäblichen Sinne keine Fehler leisten", sagt die fesche 64-Jährige. Bis jetzt habe es noch keine Reklamation gegeben - "Doch, halt, eine gab es. Als der Kleber gefroren war", lacht Erna Hesse plötzlich auf.

Da schrillt das Telefon, Matthias Hesse eilt aus dem Raum. "Damals kamen sechs oder sieben Bücher zurück, die den Kunden regelrecht auseinander gefallen waren", erinnert sich Joachim Hesse ebenfalls grinsend. Wie sich herausstellte, war der Kleber beim Hersteller in einem Schuppen einer frostigen Nacht ausgesetzt gewesen. "Dabei hatte er sämtliche Klebeeigenschaften eingebüßt." Großen Schrittes eilt da der Chef durch den Raum, schnappt sich eines der Personenstandsregister. "Wir kriegen jetzt häufig solche Anrufe, weil das Standesamt natürlich die Daten braucht, auch während die Bücher bei uns lagern."

15 bis 20 Euro koste es üblicherweise, ein altes Buch wieder in Schuss zu bringen. Dabei müssen viele Exemplare Federn - oder besser, Papier lassen. Eine moderne computergesteuerte Maschine kappt den Buchblock, so dass wieder eine helle, gerade Buchkante entsteht. Das Gerät kommt auch bei Diplomarbeiten zum Einsatz.

"Das gehört für uns dazu, im Gegensatz zu dem, was Copyshops machen", preist der Firmenchef sein Angebot an. Nur über Mund-zu-Mund-Propaganda erfahren die Studenten von dem mit alten Buchbinderwerkzeugen dekorierten Laden am Markt, "manche auch, weil die billigen Bindungen auseinander fallen."

Der Plan, den Sohn im Geschäft anzustellen, kam nach der Wende gehörig ins Wanken. "Melde dich arbeitslos, Junge, habe ich damals gesagt", erzählt Erna Hesse. Nach seiner Ausbildung in der Buchstadt Leipzig habe der Betrieb noch nicht genug für drei abgeworfen. So ging Matthias Hesse ans Bauhaus in

Dessau und machte nebenbei seinen Meister. "Und bevor ich dann den Laden übernommen habe, war klar: ich baue hier aus und suche mir Stück für Stück neue Maschinen zusammen." Gesagt, getan. Keinen Cent hat sich der 36-Jährige dafür bei der Bank geborgt, sondern ganz bodenständig nur ausgegeben, was er an Geld hatte.

Der Abschied vom Chefsessel fiel Joachim Hesse nicht schwer, behauptet er. "Der Junge macht das schon." Und obwohl die Hochschule mit allen drei Standorten als Auftraggeber weggebrochen ist, bleiben die Hesses zuversichtlich. "Wir versuchen, verstärkt für Steuerberater und Anwälte zu arbeiten, die ihre Flut an Gesetzesblättern und Verordnungen bei uns binden lassen können. Und außerdem wird es immer Bücher und Zeitschriften geben." Nur eins habe sich geändert, gibt Joachim Hesse grinsend zu. Früher habe es Lob und Trinkgeld gegeben. "Heute gibt es nur noch Lob. Aber Bestätigung braucht man auch auf seine alten Tage noch."

Nur mit der nächsten Buchbindergeneration könnte es in diesem Haus, das mit seinem großen Vorrat an Leder für die Buchrücken ein wenig an einen Stoffladen erinnert, Probleme geben. Zwar steht Paul, der neunjährige Sohn vom Chef, absolut auf Leder. Aber eher auf das runde.