Amtsgericht Aschersleben Warum Prozess nach Angriff mit Freispruch endet
Einem 40-Jährigen ohne Berufsausbildung werden zahlreiche Straftaten zur Last gelegt. Was eine Gutachterin über ihn aussagt.

Aschersleben - Die Nacht im August 2018 wird eine Ascherslebenerin wohl nie vergessen. Weil der über ihr lebende Mieter eines Mehrfamilienhauses nachts gegen halb drei lautstark in seiner Wohnung randalierte, er zerschlug eine Scheibe des Wohnzimmerfensters, hatte sie sich beschwert und bekam gleich darauf Besuch von dem heute 40-Jährigen. Er klingelte nicht, sondern trat gleich die Haustür ein und schlug auf sie ein. „Er ließ von ihr erst ab, als diese Tierabwehrspray in seine Richtung sprühte“, hieß es in der Anklageschrift.
Nicht nur blaue Flecke und Schmerzen seien Folgen gewesen, Angststörungen kamen dazu. Und als in der Nacht einer der beiden Polizeibeamten den Mann an der Flucht hindern wollte, setzte es auch für diesen einen Tritt auf den Fuß und einen Schlag und üble Beleidigungen.
Es geht um Körperverletzung, Beleidigung, Hausfriedensbruch und Diebstahl
Harry P. (Name geändert) stand nun zweieinhalb Jahre später im Amtsgericht Aschersleben vor Strafrichter Robert Schröter und zwei Schöffen, um sich dafür zu verantworten. Außer dieser Tat warf ihm die Staatsanwältin noch eine Reihe weiterer Straftaten vor. Es lagen Anklagen für Beleidigung und Hausfriedensbruch bei der Rentenversicherung und Strafbefehle wegen geringwertiger Diebstähle vor.
Bier für 2,28 Euro, Lebensmittel im Wert von 15,84 Euro sowie Zigaretten für 14 Euro steckte er in Ascherslebener Supermärkten ohne zu bezahlen ein. Ein Strafbefehl wegen Hausfriedensbruchs im Jobcenter, wo er Hausverbot hatte, kam dazu.
Der alkohol- und drogenabhängige Angeklagte gab die vorgeworfenen Taten unumwunden zu, korrigierte nur, dass er die Scheiben in seiner Wohnung nicht mit der bloßen Hand, sondern mit einer Glasflasche durchschlagen hätte. Eine Vernehmung der acht wartenden Zeugen war nach dem Geständnis nicht mehr nötig. Wohl aber die Anhörung und Befragung einer Gutachterin, die Harry P. aus langjähriger Behandlung kennt und ausführlich dessen Entwicklung schilderte.
Der 40-Jährige sei seit 2002 in Fachkliniken behandelt worden, erklärte sie. Die Gutachterin berichtete von mehr als 70 meist sehr kurzen stationären Aufenthalten, die sich von zwei im Jahr 2015 auf bis zu 13 in 2020 steigerten. Zuletzt kam es aufgrund psychischer Probleme und zunehmender körperlicher Aggressivität zur Fremdgefährdung. Harry P. habe die Aufenthalte meist selbst beendet. „Wir sind eigentlich nie zu einer dauerhaften medikamentösen Behandlung gekommen“, bekannte sie.
„Wir sind eigentlich nie zu einer dauerhaften medikamentösen Behandlung gekommen.“
Gutachterin über den Angeklagten
Seit dem 14. Lebensjahr habe er „Mist gebaut“, zitierte die Gutachterin den Angeklagten, der ohne Schulabschluss geblieben war und in Bayern auf Montage arbeitete, wo er erstmals von Mitarbeitern eine Bedrohung erfahren habe. Seit 2003 konsumierte Harry P. Methamphetamin, Cannabis und Alkohol. 15 Eintragungen stehen in seinem Strafregister, vor allem Sachbeschädigung, Bedrohungen, Beleidigungen, aber auch Körperverletzung.
Unter anderem wurden 2003 eine polymorphe psychotische Störung - bei der optische Halluzinationen, Wahnphänomene und Wahrnehmungsstörungen wie das Hören von Stimmen auftreten - und paranoide Schizophrenie diagnostiziert.
Die Gutachterin beschrieb plötzlich auftretendes Bedrohungs- und Verfolgungsempfinden des zunächst völlig beruhigt wirkenden Menschen. „Seine Mutter hat er irgendwo in seinen Wahn mit eingebaut“, berichtete sie. Aggressive Handlungen wären zum Teil unlogisch, wie ein Hilferuf bei der Mutter, die ihn dann in Niedersachsen abholte und die er dann auf der Fahrt in einem Wahn angriff.
„Das ganze gipfelte dann darin, dass er bei einem stationären Aufenthalt 2020 unter einer Medikamenteneinwirkung einen Patienten würgte“, las sie weiter vor und stellte eine schwere seelische Abartigkeit und seelische Störung fest. Sie geht davon aus, dass Harry P. die Taten in einer Realitätsverkennung ausübte.
Eine Einsichtsfähigkeit wäre höchstwahrscheinlich nicht gegeben. Die Taten seien nie im akuten Rausch aber im Zustand der Schuldunfähigkeit ausgeführt worden, erklärte die Gutachterin. Seit kurzem befindet sich der Angeklagte in einer Einrichtung im Harz. Er bekomme dort eine Therapie, Medikamente und etwas Taschengeld, sagte der Vater eines Kindes.
Richter Robert Schröter appelliert an Harry P., die Medikamente einzunehmen
Aufgrund der Schuldunfähigkeit plädierte die Staatsanwältin auf Freispruch. Zur Frage der Gefährlichkeit und Erfordernis einer dauerhaften Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verwies sie auf ein Gerichtsurteil und sah die Taten als „noch minderschweren Fall“. Bei einer regelmäßigen Medikamenteneinnahme und geeigneter Therapie könnte der Angeklagte ein Leben ohne Straftaten führen, fand sie.
Der Verteidiger schloss sich dieser Ansicht an. Harry P. hofft, dass er das letzte Mal vor einem Richter steht. „Ich würde mich am liebsten für das, was meiner Nachbarin passiert ist, in der Luft zerreißen.“
Das Schöffengericht sprach den Angeklagten schließlich frei. Robert Schröter appellierte an Harry P., die Medikamente stets zu nehmen. „Sie müssen dranbleiben“, forderte er klar auf. Falls nicht, würde P. womöglich in der geschlossenen Psychiatrie enden. (mz/dan)