Kriegsflüchtlinge Drei Tage lang waren Olja und ihre Tochter Diana unterwegs - jetzt sind sie in Aschersleben angekommen
Die 39-jährige Mutter und ihre zehnjährige Tochter sind aus Charkiw nach Aschersleben geflüchtet. Jetzt sind sie erst einmal in Sicherheit.

Aschersleben/MZ - Seit Mittwochabend sind Olja und Diana Maslum in Sicherheit. Drei Tage lang waren die 39-jährige Mutter und ihre zehnjährige Tochter von Charkiw aus bis nach Aschersleben unterwegs. Sie sind wohl die ersten ukrainischen Flüchtlinge in der Stadt. Erst wurden sie im Auto bis Plauen mitgenommen, dann fuhren sie allein mit der Bahn weiter bis Halle. Dort wurden sie am Mittwochabend von den Ascherslebenern Matthias Poeschel und Tom Gräbe abgeholt und in eine Gästewohnung der AGW gebracht, wo sie sich erst einmal ausschlafen konnten.
Nun, am Donnerstag, schaut Olja fast ein wenig schüchtern, aber doch glücklich, in die Augen von Gisela und Helmut Ewe. Das Rentnerehepaar hat den Abendbrottisch gedeckt. Für eine kleine Willkommenensfeier steht eine Flasche Sekt bereit. Aschersleben war das feste Ziel der ukrainischen Mutter. Hier hatte sie als Kind glückliche Tage verbracht. Fast jedes Wochenende war sie mit den Eltern bei Tante Gisela und Onkel Helmut. Ihre Eltern, Ljuda und Vitja, wie sie Gisela Ewe nennt, sind mit den Ascherslebenern befreundet. Gisela Ewe hat auch nach dem Abzug der Truppe der sowjetischen Streitkräfte aus dem wiedervereinten Deutschland Kontakt zu den Freunden, die in Charkiw beheimatet sind, gehalten.
Schnelle Hilfe
Als Gisela Ewe von Viktor Braschnik, dem Freund aus der Ukraine, der einst als Offizier in Cochstedt war, hörte, dass dessen Tochter und Enkelin auf dem Weg nach Deutschland sind, fragte sie bei der MZ an, wie man ihnen in Aschersleben helfen könnte. Bei ihr selbst konnten sie nicht unterkommen. Gisela Ewe sitzt mit gebrochenem Arm im Rollstuhl. Sie folgte dem Rat und rief im Rathaus an. Die Resonanz, die sie dort auf den Hilferuf erhielt, war beeindruckt. Oberbürgermeister Andreas Michelmann habe sich persönlich bei ihr gemeldet und auch Pfarrerin Anne Bremer bot ihre Hilfe an.
Am Mittwochabend bekamen Mutter und Tochter eine möblierte Wohnung der AGW zur Verfügung gestellt. Erst einmal verschnaufen nach der langen aufregenden Flucht mit wenig Schlaf. Gisela Ewe hat schon am Vortag nach alten Fotos gesucht und einige gefunden. Die kleine Olja an der Seite ihrer Eltern und die eigene Tochter auf einem alten Farbfoto. „Als sie ganz klein war, ist sie bei uns in den Teich gefallen“, sagt Gisela Ewe schmunzelnd.
Basteln mit den Ehefrauen
Gisela Ewe arbeitete damals beim Kulturbund der DDR. Irgendwann habe jemand von der Partei-Kreisleitung gefragt, ob sie in Aschersleben eine Beschäftigung für die Frauen der Offiziere suchen könnte. Bastelnachmittage und Ausflüge organisierte Gisela Ewe dann. Bei einer Führung im Zoo lernte sie Viktor kennen, der nicht etwa in Uniform, sondern in Lederjacke mitgekommen war. Das sei im Sommer 1985 gewesen. Sie freundeten sich an und hielten den Kontakt. Viktor wurde später mehrfach in andere Einheiten der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR versetzt. Gisela und Helmut Ewe besuchten seine Familie immer wieder oder er sie.
Obwohl Viktor Sowjetoffizier war, sei Olja getauft gewesen, verrät Gisela Ewe eine Besonderheit. Die Ascherslebenerin half auch anderen Frauen der sowjetischen Einheit in Cochstedt, so zum Beispiel, wenn diese lieber in Aschersleben als in Magdeburg entbinden wollten. Helmut Ewe baute sogar eine Band mit sowjetischen Soldaten auf. Sie sahen auch, in welch bescheidenen Verhältnissen die einfachen Soldaten leben mussten, als sie mal Äpfel für die Soldaten aus Radisleben gebracht hatten.

In Cochstedt war die Einheit ja überschaubar klein. „20 Offiziere und 80 Soldaten“, erinnert sich Gisela Ewe. Als die Tochter der Ascherslebener Jugendweihe hatte, feierte natürlich auch die Familie des sowjetischen Offiziers mit ihnen. Die kleine Olja war dabei. „Wir hatten Ärger mit der DSF (damalige Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft), weil wir echte deutsch-sowjetische Freundschaft gemacht hatten“, berichtet die Rentnerin.
Und als Viktor Deutschland verlassen musste, tat er das mit einem alten Wolga. In zwei Monaten wollten die Ukrainer eigentlich wieder die Ewes besuchen. Nun können sie in Aschersleben auch gleich ihre Tochter und die Enkelin besuchen. Und nachträglich zum Geburtstag gratulieren. Olja Maslum feiert nämlich in der nächsten Woche ihren 40. Geburtstag, ihre Tochter wird eine Woche später elf.
Raketen am ersten Kriegstag
Schon am ersten Kriegstag seien in Charkiw Raketeneinschläge zu verzeichnen gewesen und in den Geschäften habe es kaum etwas zu kaufen gegeben, hatte Oljas Vater Gisela Ewe berichtet. Bei der Flucht hatte Olja Hilfe des von ihr getrennt lebenden Ehemanns. Der gebürtige Libanese konnte problemlos aus der Ukraine ausreisen. Er und dessen neue Partnerin kamen nicht mit nach Aschersleben. „Wir sind an einem sicheren Platz, das ist die Hauptsache“, sagt die Buchhalterin, die hofft, in Aschersleben bleiben und arbeiten zu können.
Nach dem ersten Gespräch helfen Olja und Diana erst einmal mit, die gebratenen Klopse, Bratwurst, Aufschnitt und Tomaten aus der Küche zu holen. „Die Messer und Gabeln sind noch von deinen Eltern. 'Padarki' - Geschenke“, sagt Gisela Ewe. Sie benutzen das Besteck seit vielen Jahren.
Olja und Diana hatten am ersten Tag nach ihrer Ankunft in Aschersleben auch viel Hilfe von offizieller Seite. Jörg Widder, der neue Koordinator der Stadt für die ankommenden Flüchtlinge, begleitete ihre ersten Schritte. Behördengänge, Formulare, Unterschriften. Da wird auch in den nächsten Tagen noch so einiges zu erledigen sein. Aber jetzt gibt es erst einmal Abendbrot.