Aschersleben Aschersleben: Ein Leben im Norden der Stadt
ASCHERSLEBEN/MZ. - Manchmal schweifen die Gedanken zurück in die scheinbar heile Welt der Kinder- und Jugendtage. Verständlich, wenn man noch immer im Haus der Eltern lebt. Die Straßen, die Häuser, ja, sogar einige Nachbarn sind noch immer dieselben. Und doch schwingt etwas Wehmut mit, wenn Karl-Heinz Dietrich sagt: "Ich vermisse das tiefe Gemeinschaftsgefühl."
Karl-Heinz Dietrich zählt wohl zu den bekanntesten Gesichtern der Winninger Siedlung in Aschersleben. Dies mag daran liegen, dass er schon so lange dort lebt, dass er schon lange vor den Zugezogenen da war. Oder auch an seiner jahrelangen Mitarbeit im Ascherslebener Siedlerbund, den er als stellvertretender Vorsitzender mit leitete. Viele mögen sich an "Kalle" Dietrich auch als den enthusiastischen Sportlehrer erinnern, der jeden noch so faulen Sportmuffel auf Vordermann bringen wollte. Manchmal mehr, als denen lieb war. Alles in allem ein Ascherslebener Original, das allerdings gar nicht aus der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts kommt.
"Geboren wurde ich 1939 in Gerbstedt im Mansfeldischen", beginnt der heute 72-jährige Rentner seine Erinnerungen. Doch bereits ein Jahr nach seiner Geburt zog es die Familie Dietrich nach Aschersleben, da das Familienoberhaupt eine Stelle in den Junkers-Werken erhalten hatte, samt eigenem Haus in der Junkers-Siedlung. "Dadurch musste mein Vater nicht an die Front", erinnert sich Dietrich.
Doch der Krieg holte die Familien der Junkers-Mitarbeiter auch an der Heimatfront ein. Einmal traf eine Bombe direkt ins Wohngebiet und zerstörte ein ganzes Haus und beschädigte einige andere. Unter anderem auch das der Dietrichs, die dadurch buchstäblich das Dach über dem Kopf verloren. Doch dies war noch nicht die schlimmste Erfahrung. "Einmal schaffte ich es mit meinem Vater nicht in den Bunker der Siedlung. Also wollten wir uns zwischen den Feldern verstecken. Doch dort entdeckte uns ein englischer Jagdflieger und eröffnete das Feuer auf uns. Nur um ein Haar sind wir entkommen", erzählt Karl-Heinz Dietrich eine fast schon filmreife Geschichte.
Doch trotz des Krieges hat der Rentner seine Kindheit in guter Erinnerung behalten. Besonders der Zusammenhalt innerhalb der Siedlung sei sehr groß gewesen. Manche dieser Freundschaften reichen bis heute. Nach dem Schulabschluss 1953 an der 6. Oberschule in Aschersleben legte "Kalle" Dietrich eine Lehre als Maurer ab. Doch dies genügte dem ehrgeizigen Ascherslebener nicht: "Ich wollte studieren, auch wenn das ohne Abitur nicht ging. Also meldete ich mich 1957 freiwillig zur Armee. Die Zeit dort habe ich nicht gerade genossen, aber immerhin konnte ich so mein Abitur nachholen." Das Ziel des Studiums war klar.
Ein Lehramtsplatz sollte es sein. Also blieb der sportliche Dietrich bis 1964 in Potsdam, um nach bestandenem Abitur ein Studium zum Lehrer für Sport und Geschichte zu absolvieren. Und neben dem Lehrerdiplom brachte er noch etwas anderes mit in die Winninger Siedlung; Ehefrau Christine. "Eigentlich sollte Karl nach Brandenburg versetzt werden. Aber da ich schwanger war, hatten die Behörden ein Einsehen und ließen uns nach Aschersleben in sein Elternhaus", erinnert sich die ehemalige Krankenschwester.
Doch für die kleine Familie war das Haus, in dem immer noch Karl-Heinz' Mutter lebte, zu klein. Also beschloss der gelernte Maurer anzubauen. In monatelanger Arbeit wurde die alte Wohnfläche mehr als verdoppelt und bot nun zwei Haushalten Platz. Damit konnte endlich ein geregeltes Familienleben beginnen. Während Karl-Heinz Dietrich an verschiedenen Schulen der Stadt als Lehrer arbeitete, wuchs die Bebauung des Dietrichschen Besitzes immer weiter. "Zu DDR-Zeiten habe ich mich hauptsächlich um mein Grundstück gekümmert. Die Mitarbeit im VKSK (Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter, Anm. d. Red.), dem Vorgänger des Siedlerbundes, war mir aufgrund der staatlichen Kontrolle zuwider", erinnert sich der Hausherr.
Das änderte sich jedoch mit der Wende. Peter Sauer nahm als erster Kontakt zum Siedlerbund in Lehrte (Niedersachsen) auf. Angeregt durch deren Arbeit entstand in Aschersleben der erste Siedlerbund Sachsen-Anhalts. Karl-Heinz Dietrich engagierte sich fortan als Sauers Stellvertreter für die Interessen der Siedlergemeinschaft, ehe er später zusammen mit Wolfgang Ewe den Vorsitz übernahm.
Seit dieser Zeit hat sich einiges getan, auch wenn es nicht immer gelang, die Wünsche aller Siedler zu erfüllen: "Mit der Stadt gab es einen langen Streit über die Höhe der Müll- und Abwassergebühren, den wir für uns entscheiden konnten. Auch sehe ich die Asphaltierung des Wohngebietes und die Instandhaltung des Siedlertreffs, der schon kurz vor dem Abriss stand, als großen Erfolg für unsere Arbeit."
Mittlerweile ist es etwas ruhiger geworden um Karl-Heinz Dietrich. In den letzten 70 Jahren hat das Urgestein der Winninger Siedlung viele kommen und gehen sehen. Doch noch immer erkennt er in den Straßen und Gassen der ehemaligen Junkers-Siedlung die Stätte seiner Kindheit. Wo er vor Fliegern und Bomben flüchtete, aber auch viele heitere Stunden mit Freunden verbrachte. Zwar hat sich vieles verändert, doch zu Hause fühlt er sich noch immer, erklärte Karl-Heinz Dietrich.
"Ich bin stolz darauf, dass wir uns unsere Identität erhalten haben. Ich wünsche der neuen Vorsitzenden des Siedlerbundes, Monika Hampel, die als Tochter von Peter Sauer in die Fußstapfen ihres Vaters tritt, viel Erfolg und hoffe, dass sie einige Brücken zwischen den Generationen in unserer Siedlung schlagen kann", sagt Dietrich.