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Viscum Album Viscum Album: Ein Rest keltischer Kultur

Von Horst Heinz Grimm 21.11.2002, 10:02
Längst nicht mehr nur in Großbritannien ein fester Bestandteil der Weihnachtsdekoration - auch in Deutschland erfreuen sich Misteln wachsender Beliebtheit. (Foto: dpa)
Längst nicht mehr nur in Großbritannien ein fester Bestandteil der Weihnachtsdekoration - auch in Deutschland erfreuen sich Misteln wachsender Beliebtheit. (Foto: dpa) dpa

Düsseldorf/dpa. - Die Vorweihnachtszeit ohne Misteln - in Großbritannien ist das unvorstellbar, vielleicht schon deshalb, weil Männer unter einem Strauch junge Frauen küssen dürfen, ohne zu fragen. Die dekorative Pflanze mit den weit verzweigten Ästen, grünen lederartigen Blättern und wachsfarbenen Perlen ziert auf der Insel traditionell Festkarten, Geschenkpapier und Servietten. Zunehmend begeistern sich aber auch die Deutschen für die Mistel - obwohl der frühgermanische Pflanzenname nichts anderes als Mist im wahren Sinn der Wortes bedeutet. Vögel fressen nämlich die weißen Perlen und scheiden den Samen mit ihrem Kot wieder aus.

Verkaufsstände, die Mistelbüsche in unterschiedlichen Größen anbieten, gehören auf Weihnachtsmärkten in Deutschland inzwischen fest dazu. Die Mistel steht ebenso für die Vorweihnachtszeit wie Kranz und Kerzen. Für den deutschen Blumen-Groß- und Import-Handel sind Mistelbüsche allerdings «kein Hauptprodukt», wie Verbandsgeschäftsführer Henning Möller in Düsseldorf sagt. «Diese Ware spielt nur in der Vorweihnachtszeit eine Rolle.»

Die Misteln - wissenschaftlich viscum album - wachsen als Halbschmarotzer auf den hohen Ästen der Laubbäume. Wenn diese zum Winter ihre Blätter abwerfen, thronen oben in den Kronen scheinbar wurzellos die immergrünen, kugelförmigen Büsche. Sie wirken fast so, als könnte ihnen der Lauf der Jahreszeiten nichts anhaben. Diese Tatsache machte sie schon in vorchristlicher Zeit zu einem Göttersymbol, einem Zeichen ewigen Lebens. Für die Druiden, die keltischen Priester, war die Mistel die heiligste Pflanze. Aus ihr stellten sie auch Heiltränke her.

Die Schöpfer des Comic-Druiden «Miraculix» aus der «Asterix»-Serie zeichneten plastisch die vom römischen Gelehrten Plinius überlieferten vorzeitlichen Riten nach. Wie der gezeichnete Alte stiegen weiß gewandete Priester einst auf die Bäume und ernteten mit einer goldenen Sichel die Misteln, und zwar «am sechsten Tag nach Neumond», wie die Geschichte überliefert. Die Zweige mussten in aufgespannte weiße Tücher fallen. Dabei wurden während der Schneidezeremonie zwei Tiere rituell geopfert.

Beim Anblick des vorweihnachtlichen Schmucks gerät leicht die eigentliche Mythologie der Pflanze in Vergessenheit. Den alten Griechen galt sie als die «Goldene Zauberrute» des trojanischen Sagenhelden Äneas, der mit ihrer Hilfe in die Unterwelt eindrang. Die Germanen allerdings sahen in der Pflanze einen Unheilsbringer, da der Lichtgott Baldur nach der nordischen Sage durch einen Mistelpfeil starb. Im frühen Christentum glaubten Menschen, das Kreuz, an dem Christus starb, sei aus einem Mistelbaum gefertigt. Vor Schande soll der Baum dann zu einer Pflanze verkümmert sein.

Spätestens im Mittelalter aber wusste man das Immergrün wieder zu schätzen. Die Klosterfrau Hildegard von Bingen und Alchimisten kochten aus den Blättern Heiltränke, unter anderem gegen Epilepsie und «angezauberte Impotenz». Misteln schützten angeblich auch vor Hexen, Gespenstern, Blitzen und Feuer. Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp setzte sie zum Blutstillen ein. Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, sah sie als Mittel für die Krebstheraphie, wofür die Schulmedizin allerdings keine Beweise hat. Dagegen ist die Blutdruck senkende Wirkung anerkannt.

Botaniker zählen die Mistel zu den Epiphyten, zu Pflanzen, die auf anderen Pflanzen wachsen. Von ihren Wirtsbäumen, von denen sie kopfüber wächst, holt sie sich Wasser und die notwendigen Nährstoffe. Nur sehr starker Befall behindert die Entwicklung des Baumes. Viscum album wächst sehr langsam, jedes Jahr nur um eine Verzweigung. Sie kann einen Durchmesser von bis zu einem Meter erreichen. Dann ist sie schon ein gutes halbes Jahrhundert alt - und auf Weihnachtsmärkten in der Regel nicht zu finden.