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Unter einem Dach mit psychisch Kranken

Von Irena Güttel 14.07.2009, 09:32

Bremen/dpa. - Hannelore und Lüder Lüssen lieben es, wenn viele Menschen um sie herum sind. Sie leben zusammen mit ihren erwachsenen Kindern und deren Familien in einem Haus im Osten von Bremen.

Nachbarn, Freunde, Klassenkameraden der Enkelin - Besuch ist eigentlich immer da. Und seit einigen Monaten wohnt außerdem Cord bei ihnen. Der 70-Jährige leidet seit vielen Jahren an Schizophrenie. 1968 wurde er entmündigt und kam in ein Heim. Bei dem herzlichen Ehepaar hat der alte Mann ein neues Zuhause gefunden, fühlt sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder sicher. «Hier darf ich auch mal eine rauchen», sagt er und grinst verstohlen.

Liebevoll kümmert sich Hannelore Lüssen um Cord, schenkt ihm Kaffee ein, hebt ihm ein Stück Kuchen auf den Teller und zieht ganz beiläufig den Ärmel seines T-Shirts zurecht. Mitbewohner wie Cord gehören für die gelernte Krankenschwester und ihren Mann, einen ehemaligen Rettungssanitäter, zum Alltag. Schon als Lüder Lüssen noch ein Kind war, wohnten psychisch Kranke bei seiner Familie mit im Haus. Diese Tradition setzte er dann später fort. «Ich fand es immer traurig, wenn Menschen in Heimen und Krankenhäusern versauern.»

Seit Mitte der 90er Jahre ermöglicht die Psychiatrische Familienpflege des Klinikums Bremen-Ost Menschen wie Cord die Rückkehr in ein normales Leben - ein Vorläufer-Projekt reicht zurück bis ins frühe 19. Jahrhundert. Damit ist es nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in Berlin bundesweit das älteste dieser Art. Die drei Mitarbeiterinnen betreuen zurzeit 16 Patienten in Gastfamilien. «Unsere Familien sind bewusst Laien. Menschen, die einen Alltag und Stabilität bieten können», erklärt Birte Schale. Dafür bekommen sie im Monat 900 Euro als Aufwandsentschädigung. «Reich wird man damit nicht. Trotzdem prüfen wir vorher natürlich immer die Motivation der Familien.»

Bei den Patienten handelt es sich meist um Erwachsene mit schizophrenen Erkrankungen oder depressiven Zügen. Manche - vor allem die Jüngeren - wohnen nur für einige Zeit in den Gastfamilien. Solange, bis sie wieder alleine leben können. Andere bleiben jedoch für immer. Eine Frau lebte 45 Jahre bei den Lüssens. «Das war die Oma im Haus - die Kinder haben richtig gelitten, als sie gestorben ist», erzählt Hannelore Lüssen. Auch Cord ist mittlerweile ganz selbstverständlich zu einem Teil der Familie geworden, kümmert sich um den Abwasch und staubsaugt leidenschaftlich gern.

Doch wie in normalen Familien auch kann es ab und zu Streit um die Hausarbeit oder andere Konflikte geben. Das kennt Gunda Siegel, die zurzeit mit zwei jungen Männern zusammenlebt, nur zu gut. Die krisenerprobte Rentnerin lässt sich jedoch nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Seit sechs Jahren wohnen Psychiatrie-Patienten bei ihr, davor kümmerte sie sich 20 Jahre lang um Pflegekinder. «Dann setzen wir uns zusammen und sprechen darüber.» Für den 29 Jahre alten Lars ist das eine ganz neue Erfahrung: «Bei uns zu Hause wurde nicht diskutiert, da hatten die Eltern Recht.»

Natürlich kommt es auch vor, dass die Patienten einen dramatischen Rückfall erleiden. Eine ihrer Mitbewohnerinnen konnte Siegel deshalb irgendwann nicht mehr alleine lassen. Die junge Frau musste ausziehen. «Das ist allerdings eher selten», erzählt Schale. Bei Konflikten schalten sich die Betreuerinnen sofort ein, treten solange wie möglich aber nur vermittelnd auf. «Ist die erste große Krise erstmal überstanden, schweißt das die Leute zusammen.»

Auch wenn es mit ihren Gästen nicht immer einfach ist, missen will Siegel sie auf keinen Fall: «Man braucht viel Energie, bekommt aber auch viel dafür - vor allem wenn es voran geht», sagt Siegel. Damit meint sie ihre Jungs: Der 34 Jahre alte Timo hat mittlerweile einen festen Job in der Gastronomie gefunden und Lars hat eine Arbeitstherapie begonnen.

Psychiatrische Familienpflege: www.klinikum-bremen-ost.de/internet/kbo/de/kliniken-zentren/psychiatrie/ueberregionales/psychiatrische-familienpflege/index.html