Zuneigung ungleich verteilt Tabuthema in Familien: Wenn Eltern ein Lieblingskind haben
Viele Mütter und Väter haben zu einem ihrer Kinder eine stärkere emotionale Nähe – oft unbewusst. Wie sich das auf die Familie auswirkt und was Eltern dagegen tun können.

Frankfurt/Main - „Du hast meinen Bruder viel lieber“: Der Vorwurf trifft. Bemüht man sich nicht immer, die Kinder gleich zu behandeln? Und liebt sie, aber natürlich, in gleichem Maße! Soweit die Vorsätze.
Aber tatsächlich ist da im Alltag oft zu einem Kind eine größere Nähe, meist unbewusst, manchmal auch bewusst: In einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Appinio im Auftrag des Unternehmens Mydays gaben 18 Prozent der Befragten an, ein Lieblingskind zu haben.
Susanne Döll-Hentschker verwundert das nicht, schließlich werde schon gleich nach der Geburt beim Säugling nach Ähnlichkeiten gesucht, sagt die Psychoanalytikerin und Professorin für Psychotherapie an der Frankfurt University of Applied Sciences. „Das ist pure Projektion, aber wenn man das Gefühl hat, sich in seinem Kind wiederzufinden, beeinflusst dies das Beziehungsverhalten.“
Herausfordernde Kinder schwieriger „zu lesen“
Es sind Ähnlichkeiten und Unterschiede in Temperament, Interessen oder familiären Rollen, die eine besondere Nähe zwischen einem Elternteil und einem Kind fördern. „Manche Kinder sind ausgeglichener, manche herausfordernder. Und es gibt Entwicklungsphasen, in denen das kindliche Verhalten für die Eltern schwieriger zu lesen und zu regulieren ist“, sagt Fabienne Becker-Stoll. Die Psychologin ist Expertin für frühkindliche Entwicklung und Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Medienkompetenz in Amberg.
Und ja, es sei völlig normal, wenn man dann mit dem Kind, mit dem es immer Streit gibt bei den Hausaufgaben, eben nicht so gern über den Mathe-Aufgaben sitzt. Entscheidend sei, dass man sich solcher Dynamiken bewusst ist, sagt Becker-Stoll – und der Tatsache, dass nicht die Kinder, sondern die Eltern die Verantwortung für eine gelingende Beziehung tragen: „Kinder müssen wissen und spüren, dass sie bedingungslos geliebt werden.“
Benachteiligung kann sich negativ auf Selbstwert auswirken
Eine sichere Bindung gibt Selbstvertrauen. Und verhindert, dass sich Kinder weniger geliebt fühlen, wenn die Geschwister in bestimmten Phasen doch mal mehr elterliche Aufmerksamkeit bekommen. „Ungleichbehandlung ist unvermeidbar, weil jedes Kind andere Bedürfnisse hat“, sagt Susanne Döll-Hentschker. Aus ihrer Sicht wäre es albern, eine Zweijährige so zu behandeln wie eine Vierjährige: „Wenn man ihnen die Gründe für die Unterschiede erklärt, kommen Kinder damit in der Regel auch gut zurecht.“
Sofern die Ungleichbehandlung nicht in Bevorzugung umschlägt: Zu erleben, dass Bruder oder Schwester systematisch mehr Zuwendung erfahren, hinterlässt tiefe Wunden. „Fühlt sich ein Kind dauerhaft benachteiligt oder nicht gesehen, kann sich das sehr negativ auf den Selbstwert und das Selbstbild auswirken“, sagt Anja Lepach-Engelhardt, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Privaten Hochschule Göttingen.
Aber auch der Status als „Lieblingskind“ könne langfristig negative Folgen haben: „Sie werden oft verstärkt in die Verantwortung für die Pflege der Eltern genommen“, sagt die Expertin.
Gibt es das typische Lieblingskind?
Das typische „Lieblingskind“ gibt es nicht: „Die Geburtenreihenfolge kann eine Rolle spielen, gerade die Zeit mit Erstgeborenen wird oft besonders intensiv wahrgenommen und sie werden besonders mit Aufmerksamkeit beschenkt. Sie müssen aber im Gegenzug auch häufig mehr Verantwortung übernehmen“, erklärt die Psychologin. Teilweise würden auch die letztgeborenen „Nesthäkchen“ besonders begleitet. In der Tendenz seien die mittleren Kinder diejenigen, die am wenigsten Aufmerksamkeit erhalten.
Auch das Geschlecht kann sich auswirken: Ein US-kanadisches Forscherduo der Brigham Young University im US-Bundesstaat Utah kam nach Auswertung der Daten von rund 20 000 Menschen zu dem Ergebnis: Eltern bevorzugen tendenziell eher Mädchen als Jungen sowie gewissenhafte und verträgliche Kinder.
Zudem fanden sie heraus: Geschwister, die bevorzugt behandelt werden, weisen tendenziell eine bessere psychische Gesundheit und weniger Verhaltensprobleme auf. „Die Auswirkungen der elterlichen Bevorzugung sind signifikant und gehen über allgemeine Erziehungsstile hinaus“, lautete das Fazit der Wissenschaftler.
Bevorzugung entsteht selten aus Berechnung. Und sich einzugestehen, dass man nicht die gleiche Beziehungsqualität zu jedem seiner Kinder hat, „gilt vielen als Tabu und deswegen wird dies häufig in offenen Befragungen verneint“, sagt Anja Lepach-Engelhardt: „Mittlerweile liegen aber einige größere Studien vor, die aufzeigen, dass zumindest eine unbewusste Bevorzugung häufig vorkommt, die sich beispielsweise in Form von mehr Aufmerksamkeit, Lob oder Nachsicht gegenüber einem bestimmten Kind äußern kann.“
Nicht unbedingt gleich behandeln, sondern gerecht
Doch was tun, wenn ein Kind einem einfach näher ist? Wenn das Temperament besser passt, die Gespräche einfacher sind, die Reaktionen liebevoller? „Selbstbeobachtung und Ehrlichkeit sind ein guter Anfang“, sagt Lepach-Engelhardt. Sie empfiehlt, sich folgende Fragen zu stellen: Wie spreche ich mit jedem Kind? Wie viel Zeit verbringe ich mit ihm? Was provoziert, stresst oder enttäuscht mich im Kontakt? Und was schätze ich besonders?
„Dann sollte man sich fragen, warum man einem Kind mehr Aufmerksamkeit oder Nachsicht schenkt, ob das wiederholt vorkommt und wie man dies ausgleichen kann, beispielsweise indem man Zeit und Ressourcen bewusst aufteilt oder indem sich die Elternteile auch mal getrennt mit den Kindern beschäftigen“, rät die Psychologin. Gleichbehandlung bedeute nicht, alle gleich zu behandeln, „sondern gerecht“.
Es sind übrigens nicht immer nur die Eltern. Auch Großeltern können in diesem Kontext eine sehr unrühmliche Rolle spielen, beobachtet Susanne Döll-Hentschker, „wenn beispielsweise die Großmutter den jüngsten Enkel ablehnt, weil sie der Meinung ist, dass die Familie doch eigentlich schon vollständig war und es nicht noch ein Kind gebraucht hätte“.
Bevorzugung kann der Geschwisterbeziehung schaden
Unter solchen Dynamiken leiden nicht nur die betroffenen Kinder. Sie können auch Geschwisterbeziehungen massiv beeinträchtigen, durch Rivalität, Eifersucht, Schuldgefühle. Kinder finden sich in Rollen wieder, die sie nie gewählt haben. „Manche Geschwisterbeziehungen werden dadurch tatsächlich zerstört oder bleiben ein Leben lang schwierig“, sagt Döll-Hentschker.
Aber Verletzungen können auch heilen, wenn es Eltern und Kindern gelingt, darüber ehrlich ins Gespräch zu kommen, „wenn die Eltern den Schmerz des Kindes, das immer benachteiligt worden ist, anerkennen“, sagt Fabienne Becker-Stoll. Verantwortung für die Beziehung zum Kind übernehmen und fragen: „Was kann ich tun, damit es zwischen uns besser wird“ – das seien wichtige Schritte, um jedes Kind in seiner Eigenheit zu sehen und darin ernst zu nehmen.