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Speisehaus Härter in Eisleben Speisehaus Härter in Eisleben: Zwischen süß und herzhaft

Von Marlene Köhler 23.12.2005, 14:10

Halle/MZ. - Mittagszeit im Speisehaus Eisleben. Montag bis Freitag das gleiche Ritual. Die Rentnerinnen und die Hausfrau treffen sich gegen 11.30 Uhr und steuern dann einen Tisch möglichst auf der rechten Seite an - der bequemen blauen Stühle wegen.

Halt, etwas ist anders im Advent: Auf den weiß gedeckten Tischen stehen Gestecke auf roten Servietten. Kerze anzünden heißt nun die erste Amtshandlung. "Streichhölzer haben wir extra dabei", sagen die Frauen. An der Stirnseite des Saals leuchtet ein Tannenbaum, fast kommt Gemütlichkeit auf.

Willy Schmidt vom Nachbartisch geht schnellen Schritts zur Essensausgabe. Erst konnte er sich nicht entscheiden zwischen süß und herzhaft, zwischen Milchreis für 3,20 und Roulade für vier Euro, hat ausgiebig Speisekarte und Tafel studiert. Doch nun weiß er, was er will. Carmen Härter, die Chefin vom Speisehaus, und ihre beiden Angestellten Rosmarie Wötzel und Bärbel Schneider stehen hinter dem Tresen bereit. Sie kennen die Eile der Freiberufler auf dem Weg zum Termin, der Geschäftsleute rund um Markt und Rathaus, die neben dem preiswerten Essen den flinken Service schätzen.

Am Tisch von Waltraud Schülbe geht es, wie an den meisten, geruhsamer zu. Bergbaurentner und Arbeitslose gehören zum Stammpublikum, zumindest in der ersten Monatshälfte und solange das Geld reicht. "Dass es schmeckt wie bei Muttern ist nicht der einzige Grund, warum wir so oft hierher kommen", senkt die Siebzigjährige die Stimme. "Es ist, weil wir hier nicht allein sind." Deshalb sind sie meist unter den Letzten, die um 14 Uhr die etwas andere Gaststätte verlassen. Bis dahin tauscht man sich aus über "Gott und die Welt", lacht viel, auch über die Tische hinweg, und wenn einer fehlt fragt man: Ist was passiert? "Ich habe jeden Tag ein Ziel, als ob ich zur Arbeit gehe. Muss mich zurechtmachen, kann mich nicht gehen lassen", ergänzt Irmgard Srech.

Dienstags und donnerstags sind Markt- und Behördentage, da bekommt man hier kaum einen Platz. Denn auch für die Bewohner aus den umliegenden Dörfern ist das 1992 in der ehemaligen Kombinatskantine eröffnete Speisehaus längst eine gute Adresse. Zunehmend werden Touristen gesichtet, die sich Hunger geholt haben zwischen Luthers Geburts- und Sterbehaus und den anderen Sehenswürdigkeiten.

Ein kleiner Koch aus weißer Pappe weist den Gästen unweit vom Markt den Weg in die Vikariatsgasse. Er steht da schon in sechster Auflage, immer wieder hat der drollige Pappkamerad Liebhaber gefunden. Doch ohne ihn würde man das unscheinbare Gebäude kaum wahrnehmen. Vor allem Besucher aus dem Westen staunen über Angebot - zwölf bis 14 Gerichte stehen jeden Tag zur Auswahl - und Preise. Kein Wunder, denn wo isst man heutzutage Kohlroulade, Gulasch oder Schnitzel für drei bis vier Euro? "Sie werden doch bestimmt von jemandem unterstützt?", wird Carmen Härter oft gefragt. Das kann die ehemalige Kindergärtnerin, die das Speisehaus vor drei Jahren von ihrer Mutter Renate Härter übernommen hat, nur verneinen. Scharf kalkulieren muss sie, um solche Preise hinzukriegen. Alles wird teurer, Strom, Heizung; im Herbst ist auch noch ihr langjähriger Lebensmittel-Lieferant aus Griesheim abgesprungen, weil der Absatz zurückging, der Neue aus Nordhausen ist wesentlich teurer. "Im Moment suche ich den günstigsten Großhändler und versuche, eine neue Kalkulation aufzustellen", sagt Carmen Härter, deren Arbeitstag um 5.30 Uhr beginnt und nach dem Duschen um 14.30 Uhr noch längst nicht zu Ende ist. Ihren Traumberuf Erzieherin gegen die Arbeit im Speisehaus eingetauscht zu haben, bereut sie trotzdem nicht. "Es gibt nichts Vergleichbares in der Region. Das durfte nicht einfach vorbei sein, bloß weil Mutti in Rente ging."

Mutter Renate war eine Institution im Mansfeld Kombinat. Die gelernte Diätköchin kam nach neun Jahren im Bergbaukrankenhaus Eisleben 1965 als Köchin ins Kombinat, wurde 1968 Küchenleiterin, die Kantine war bald ihr zweites Zuhause. Mehr als 800 Essensportionen wurden damals täglich zubereitet; auch die Poliklinik, die Hütte und andere Betriebe mussten mit versorgt werden. Außerdem war das Gästehaus zu betreuen und ab 1973 kam der "Keller der 10. Weltfestspiele" dazu, in dem Veranstaltungen für besondere Besucher stattfanden. Auf der Gästeliste standen Namen wie Horst Sindermann, Erwin Geschonneck, Sigmund Jähn, Angela Davis und viele mehr.

Renate Härter erinnert sich, wie oft sie mit Generaldirektor Professor Karl-Heinz Jentsch die Menüs oder die Tischgestaltung für diese Abende besprach, "wo wir aus nichts was machen mussten". Nächtelang hat sie dann zu Hause gebastelt, hat zum Beispiel Nudelteigkörbe gebacken, in die Obst kam und die "richtig nach was aussahen". Einmal, bei einer Tagung des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe), gefiel den ausländischen Gästen die selbstgebackene Dekoration so gut, dass sie sie zum Schluss in ihre Autos packten und mit nach Hause nahmen. "Du solltest endlich dein Buch schreiben", neckt Carmen Härter ihre Mutter.

Als das Kombinat nach der Wende dicht gemacht wurde, trug man Renate Härter an, die Kantine privat weiterzuführen. Sie machte Kostenaufstellungen, Existenzgründerschulungen, überlegte hin und her. Kaufte Spül- und Kaffeemaschine und den sündhaft teuren Kombimeister, in dem man vieles auf einmal kochen, braten und backen kann und dessen Bleche sich selbst reinigen.

Angst hatte sie dennoch, 1992, beim Schritt in die Selbständigkeit. Bei manchem spürte sie Neid, mancher gab ihr ein halbes Jahr. Doch das Speisehaus ist immer noch da. Und Dienstagmorgen nach Weihnachten kommen die Ersten um acht zum Frühstück.