Soziologe erklärt Soziologe erklärt: Warum uns Corona mental zu schaffen macht

Jena - Die aktuelle Corona-Krise ist nach Einschätzung des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa für moderne Gesellschaften ohne Vergleich. „So eine rasende Entschleunigung ist ganz und gar einzigartig“, sagte er mit Blick auf den Shutdown weiter Teile des gesellschaftlichen Lebens im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Zugleich biete die Situation die Chance, „noch einmal anders mit sich, anderen und der Welt in Kontakt zu treten“.
Frage: Angesichts der Corona-Krise kaufen viele Deutsche große Mengen Lebensmittel und Toilettenpapier. Haben Sie sich auch eingedeckt?
Antwort: Das hält sich bei mir in Grenzen, aber ich habe vor, nachher gleich noch einmal einkaufen zu gehen. Das kann nicht schaden.
Frage: Solche Situationen wie aktuell sind eine Fundgrube für Soziologen. Wie fällt ihre Analyse aus?
Antwort: Die aktuelle Lage ist historisch ohne Vergleich. Was mir besonders auffällt: Es kommt einem so vor, als hätte jemand von außen riesige Bremsen ans Hamsterrad gelegt. Seit 250 Jahren ist unsere Gesellschaft in einem Vorwärts- und Beschleunigungsmodus. Bisher gab es da nur partielle und kurzfristige Einschränkungen, etwa nach dem 11. September oder als durch den Vulkan Eyjafjallajökull in Island zeitweise der Flugverkehr eingestellt war. Wegen des Virus werden jetzt aber weite Teile des gesellschaftlichen Lebens angehalten. So eine rasende Entschleunigung ist ganz und gar einzigartig.
Frage: Weil sich das Virus offensichtlich rasant ausbreitet und wir die Situation wieder in den Griff bekommen wollen.
Antwort: Die moderne Gesellschaft ist darauf geeicht, Dinge verfügbar zu machen, unter Kontrolle zu kriegen und zu halten. Das letzte Kapitel meines jüngsten Buches lautet „Die Rückkehr der Unverfügbarkeit als Monster“. Genau damit haben wir es im Moment zu tun. Da kriecht plötzlich etwas über die Welt, das in jeder Hinsicht unverfügbar ist: Wir sehen es nicht, wir haben es wissenschaftlich nicht unter Kontrolle, medizinisch nicht im Griff, bekommen es politisch nicht reguliert. Und da reagiert Gesellschaft so, wie ich es beschrieben habe: Mit einem panischen Versuch, Verfügbarkeit wiederherzustellen. Wir wollen die Kontrolle behalten. Und wir stellen gerade fest, dass wir dabei an Grenzen stoßen.
Frage: Was hat das aus Ihrer Sicht für Folgen?
Antwort: Dass wir die Bedrohung in Form des Virus nicht sehen, führt zu einer massiven Entfremdung, zu einem Misstrauen gegenüber der eigenen Wahrnehmung und gegenüber der Welt. Man weiß plötzlich nicht mehr, ob der Mensch, der gerade vorbeiläuft, vielleicht ein tödliches Virus in sich hat. Und man misstraut dem eigenen Körper: Was bedeutet dieses Kratzen im Hals? Was mich interessiert - ich nenne das eine Soziologie der Weltbeziehung - ist, wie wir auf uns selbst und auf die Welt bezogen sind. Was gerade passiert, ist die massive Untergrabung von Selbstwirksamkeitserfahrung und Vertrauen.
Frage: Sie hatten prognostiziert, dass die ständige Beschleunigung aller Lebensbereiche zu einem rasenden Stillstand führen wird. Jetzt sind viele Menschen nach dem Shutdown von Schulen, öffentlichen Einrichtungen, durch Quarantänen und Kontaktverbote eher zum Stillstand verdammt.
Antwort: Mit rasendem Stillstand versuche ich zu beschreiben, dass alles in hohem Tempo weitergeht, aber man nicht mehr das Gefühl hat, voranzukommen: Man rennt und tritt auf der Stelle. Momentan ist es tatsächlich so, dass wir nicht mehr rennen, einfach weil vieles stillgestellt ist. Aber wir befinden uns immer noch in einem System, das steigerungsabhängig ist. Was die Menschen beschleicht, hat zum Teil Züge einer Depression. Wir haben den Drang, alles am Laufen zu halten und weiter unsere Geschäfte zu erledigen. Das ist sozusagen eine Form von massiv dysfunktionaler Entschleunigung.
Frage: Sie meinen, wir haben das Hamsterrad so verinnerlicht, dass es uns befremdet, wenn wir plötzlich daraus geworfen werden?
Antwort: Ja, das ist eigenartig. Viele hätten gedacht, es ist super, wenn ich mal so richtig Zeit habe - da kann ich all die Sachen machen, die mir wirklich wichtig sind. Und jetzt stellt man fest, dass vieles davon Illusion war. Weil die Dinge, die wir jetzt wirklich einmal machen könnten, gar nicht mehr so attraktiv erscheinen. Wir laufen seit so vielen Jahren, letztlich seit der Geburt in einem riesigen Hamsterrad. Wir müssen von morgens bis abends To-Do-Listen abarbeiten. Und diese innere Haltung zum Leben geht nicht einfach weg, bloß weil sich jetzt ein Virus ausbreitet.
Frage: Der Weg führt vom Hamsterrad zum Hamsterkauf?
Antwort: Zumindest will man weiter aktiv sein. Ein Hamsterkauf ist ein klassischer Fall von Verfügbarkeitssicherung. Ich will unbedingt sicherstellen, dass ich auch morgen noch Klopapier, Nudeln, Butter, Joghurt habe. Wir leben in einer Welt, einer Gesellschaft, die mit der Unwägbarkeit des Lebens ganz schlecht umgehen kann.
Frage: Letztlich begünstigt unser Lebensstil samt Globalisierung gerade die Ausbreitung solcher Viren und Unwägbarkeiten des Lebens.
Antwort: Das ist definitiv so. Dass sich das Virus so ausbreiten kann, hängt damit zusammen, dass wir eine gewaltige globale Weltreichweite realisiert haben. Nun werden wir räumlich plötzlich auf unsere eigenen vier Wände zurückgeworfen. Der zeitliche Horizont ist auch massiv eingeschränkt, weil keiner weiß, was in drei oder vier Wochen ist. Das ist völlig unwägbar geworden. Das ändert die Weise unseres In-der-Welt-Seins. Daran müssen wir uns erst einmal gewöhnen.
Frage: Diese neue Beziehung zur Welt muss sich jeder neu erarbeiten?
Antwort: Ja, das ist so. Ich glaube, da ändert sich jetzt auch das Bewusstsein für den Nahbereich, für den eigenen Körper, die Wohnung, den Nachbarn.
Frage: Da gibt es ermutigende Beispiele von Nachbarschaftshilfe. Entstehen nicht gerade neue Formen sozialer Kontakte, obwohl wir unsere Sozialkontakte einschränken sollen?
Antwort: Ich glaube, in dieser Super-Verlangsamung des Lebens liegt die Möglichkeit, noch einmal anders mit sich, anderen und der Welt in Kontakt zu treten. Ich nenne das Resonanzbeziehungen. Dabei geht es mir aber nicht nur um andere Menschen, sondern um die Art und Weise, wie wir uns auf das Leben, die Welt, auch die Objektwelt einlassen. Man kann alte Tagebücher oder Briefe hervorholen oder wie in dem von Ihnen erwähnten Beispiel mit Nachbarn noch einmal anders in Kontakt treten. Der entscheidende Punkt ist die Haltung, mit der wir das tun: Sie ist ergebnisoffen, es muss nichts Bestimmtes dabei herauskommen.
Oder denken Sie an Italien, wo Menschen in Isolation auf die Balkone gehen und miteinander Musik machen. Man hört und antwortet auf eine Situation und plötzlich entsteht da etwas. Resonanzmomente sind immer solche, in denen Neues entsteht, was ich nicht geplant habe oder mir jemand auf irgendeine Weise vorgibt. Deshalb glaube ich, dass wir kollektiv damit in eine Lage geraten, in der wir die Chance haben, dass Neues entsteht, neue Muster des Lebens und des Zusammenlebens. Unsere Welt hätte das angesichts der Klimakrise ohnehin dringend nötig! (dpa)