1. MZ.de
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Festtagsküche: So isst man Weihnachten im Erzgebirge

Festtagsküche So isst man Weihnachten im Erzgebirge

Ritual in neun Speisen: Im Erzgebirge wird am Heiligen Abend in vielen Familien nach alter Tradition das Neunerlei gegessen. Welche besondere Bedeutungen den dazugehörigen Gerichten zukommen.

Von Heidi Diehl 24.12.2022, 06:45
Hinter den bunt beleuchteten Häusern im Erzgebirge wird zu Weihnachten gut gegessen.
Hinter den bunt beleuchteten Häusern im Erzgebirge wird zu Weihnachten gut gegessen. Foto: IMAGO/Sylvio Dittrich

Er ist müde und ihm ist kalt. Mühsam schleppt sich der Mann nach einer langen, schweren Schicht in der Erzgrube durch die engen Gassen nach Hause. Einzig die Schwibbögen, die in der Weihnachtszeit in fast allen Häusern im Erzgebirge in den Fenstern leuchten, weisen ihm den Weg. Seine Mütze hat er tief in die Stirn gezogen, die eiskalten Hände in den Taschen seines alten, viel zu dünnen Mantels vergraben. Dringend bräuchte er einen neuen, doch den kann er sich nicht leisten. Er ist froh, wenn er irgendwie die Mäuler seiner immer größer werdenden Familie stopfen kann.

Vier Kinder warten zu Hause, bald wird das fünfte geboren. Wie oft schon haben sich die Kinder hungrig in den Schlaf geweint, wie oft ist seine Frau verzweifelt: Weil sie nicht weiß, was sie morgen auf den Tisch bringen soll, weil sie Angst davor hat, dass ihn die schwere Arbeit unter Tage krank macht. Was soll dann bloß aus ihr und den Kindern werden?

Der Mann versucht, die trüben Gedanken beiseitezuschieben. Nur noch wenige Tage sind es bis Heiligabend! Er freut sich auf die strahlenden Augen seiner Kinder angesichts der Geschenke, die er geschnitzt und gebaut hat, als sie längst in ihren Betten lagen – zwei Puppen, zwei Pferdekutschen und für alle gemeinsam einen neuen Schlitten. Fast noch mehr aber freut er sich auf das traditionelle festliche Essen in der Heiligen Nacht – das Neunerlaa!

Mehr als nur satt werden

So ähnlich wird es noch vor 100 Jahren im Erzgebirge vielen Familien ergangen sein. Die Menschen waren bitterarm, Hunger und Krankheiten ihre ständigen Begleiter, und nicht selten klopfte Gevatter Tod viel zu früh an die Türen der armseligen Hütten. Umso mehr wurden Bräuche gepflegt. Wie das Neunerlei, oder wie die Erzgebirgler sagen: Neunerlaa. Auch wenn das ganze Jahr über das Essen zu knapp war, die Hausfrau schaffte es irgendwie, für das Festessen an Heiligabend etwas beiseitezulegen. Denn das Neunerlei bedeutete für die Menschen mehr, als einmal im Jahr richtig satt zu werden.

Nach einem festen Ritual werden am Heiligen Abend im Erzgebirge neun Speisen aufgetragen.
Nach einem festen Ritual werden am Heiligen Abend im Erzgebirge neun Speisen aufgetragen.
Foto: TVE/Marcel Drechsler

Die Armut ist inzwischen aus den Häusern verschwunden, das Neunerlei aber gehört bei vielen Familien nach wie vor zu Weihnachten. Nach einem festen Ritual werden Heiligabend neun Speisen aufgetragen – jede hat ihre besondere Bedeutung. Auch wenn es etliche Variationen gibt, die Grundbestandteile des Neunerleis sind über die Jahrhunderte im Wesentlichen gleich geblieben.

Schon am Vortag ziehen verlockende Düfte durchs Haus, denn gekocht wird bereits am 23. Dezember. Nicht nur, damit die Köchin oder der Koch in Ruhe mit am Tisch sitzen können. Die Tradition verlangt auch, während des Festmahls nicht aufzustehen. Hält man sich nicht daran, wird man demnächst bestohlen, oder die Hühner verlegen die Eier.

Volle Töpfe und helle Tage

Ganz so genau nimmt man es zwar heute nicht mehr, aber eines bleibt: Pünktlich 18 Uhr ruft die Hausfrau alle an den festlich gedeckten Tisch – die Kerzen brennen, und Schüsseln und Töpfe sind bis zum Rand gefüllt. Das bringe volle Töpfe und helle Tage über das ganze Jahr hinweg, heißt es. Wenngleich das in früheren Zeiten in den meisten Familien ein frommer Wunsch blieb, einmal im Jahr wenigstens wollte man daran glauben.

Alle drei Reiche der Erde sollen eine Zutat zum Neunerlaa beisteuern: die Luft eine Gans, die Erde Bratwurst oder Schwein und das Wasser den Hering. Das Federvieh sorgt dafür, „doß ens Gelick trei bleibt“ (einem das Glück treu bleibt), Bratwurst oder Schwein versprechen, „Harzhaftigkeit un Kraft zu bewohrn“ (Herzlichkeit und Kraft zu bewahren), und der Fisch ist dafür zuständig, „doß es net an grußen Gald fahlt“ (dass das große Geld nicht ausgeht). Damit dieses aber den Weg ins Haus findet, gehören Schüsseln voller dampfender Klöße auf den Tisch. Doch Achtung: Die Klöße bitte nicht zählen, und wenn man es doch tut, dann muss eine ungerade Zahl herauskommen!

Genau umgedreht sollte es sich mit der Anzahl der Gäste am Tisch verhalten: Die darf nie ungerade sein, ansonsten stirbt laut altem Glauben bald ein Familienmitglied. Um doppelt abzusichern, dass dieses Unglück nicht eintritt, wird immer ein Gedeck mehr aufgelegt – für den fremden Gast, der noch kommen könnte. Unter die Teller gehört eine kleine Münze. Warum? Damit im kommenden Jahr immer genug Geld im Haus ist. Auch beim nächsten Gang, dem Linseneintopf, geht es ums Materielle, diesmal ums Kleingeld: „doß eins kleene Gald net ausgieht“, so der Volksmund.

Doch das Neunerlaa „kümmert“ sich auch um andere Werte: etwa um Glück. Dazu jedoch bedarf es Roter Beete in der Speisenfolge – in welcher Form, ist letztlich egal. Die gesunde Knolle soll im nächsten Jahr nicht nur für gutes Wachstum des Getreides sorgen, sondern auch für „Freid un Gelick un rute Backen“ (Freude und Glück und rote Wangen). Auch Sauerkraut, das zumeist mit der Bratwurst und Kartoffelsalat serviert wird, gehört unbedingt auf den Tisch, „damit ens Labn net sauer wird“ (damit einem das Leben nicht sauer wird). Kompott potenziert die Wirkung des Sauerkrauts noch. Ein paar Löffel davon reichen, „doß man sischs ganze Labn free kah“ (dass man sich des Lebens erfreuen kann). Rührt man gar ein paar Nüsse oder Mandeln unter, „fährt dr Labnswogn gut geölt dorchs neie Gahr“ (läuft der Lebensalltag nächstes Jahr gut ab).

Wie in alten Zeiten

Bleiben noch ein paar Speisen für die Gesundheit. Semmelmilch oder Buttermilch stehen da zur Auswahl, wobei Erstere die bessere Wahl ist. Denn während Buttermilch nur bewirkt, „doß mr ka Koppweh hat“ (dass man keine Kopfschmerzen bekommt), wirkt Semmelmilch ganzheitlich und sorgt dafür, „doß en de Nos net truppt in neie Gahr“ (dass man nächstes Jahr nicht krank wird). Krank wird man zwar nicht, wenn man sich derart den Magen vollschlägt, aber mit dem ruhigen Schlaf ist’s zumindest für diese Nacht vorbei. Es sei denn, man hält sich an eine weitere Regel des Neunerlaa: sich zu mäßigen und sich von jeder aufgetragenen Speise nur wenige Löffel voll auf den Teller zu laden.

Und zur Verdauung ein Spaziergang durch Seiffen.
Und zur Verdauung ein Spaziergang durch Seiffen.
Foto: IMAGO/Sylvio Dittrich

Theoretisch ist das mit der Mäßigung beim Essen klar, sich daran zu halten indes ziemlich schwierig, vor allem, wenn man das Neunerlaa von einem so versierten Koch wie Ronny Weiß serviert bekommt. Gemeinsam mit seiner Frau Regina empfängt er die Gäste im Seiffener Hotel „Buntes Haus“. Der Erzgebirgler und die Bayerin führen es seit 2009 in alter Tradition, wozu in der Weihnachtszeit eben auch das Neunerlei gehört. So können sich auch Menschen, die nicht mit den Bräuchen des Erzgebirges aufgewachsen sind, Teller für Teller die Aussicht auf Glück, Gesundheit und Wohlstand einverleiben und zwischen den Gängen Geschichten vom Neunerlaa und aus längst vergangenen Zeiten lauschen.

Spät in der Nacht, wenn alle Töpfe und Schüsseln geleert sind, hilft ein Spaziergang durch Seiffen, den rebellierenden Magen zu beruhigen. Wie seit Jahrhunderten beleuchten die Schwibbögen in den Fenstern den Weg und schmücken Räuchermännel, Pyramiden, Lichterengel und Bergmänner die Wohnstuben, aus denen die Angst der Bewohner um das Morgen längst verbannt ist.