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Roulette Roulette: Wie das Leben so spielt

Von Steffen Könau 07.04.2006, 15:59

Halle/MZ. - Christian Kaisan konnte ihn riechen, an jedem Rennwochenende am Leipziger Scheibenholz. Drinnen liefen die Pferde, draußen rollten die Würfel, seit die DDR das Glücksspiel-Verbot aus den Strafgesetzbuch gestrichen hatte. Kaisan blieb draußen: "Das hat mich fasziniert", erinnert sich der Mann, dessen Leben seither stets so sehr Spiel war wie das Spiel sein Leben.

Kaisan, heute als "der Sachse" Schrecken von Spielcasinos weltweit, hatte bald selbst einen Campingtisch. "Ich habe mir ausgerechnet, welche Quoten ich brauche, damit ich meinen Schnitt mache", lächelt der 62-Jährige unter scharf rasierter Glatze und Stahlrahmenbrille. Der Zufall, das sei ihm schnell klar gewesen, ist sowenig der Freund des Spielers wie das Glück seine Freundin ist. "Gewinne muss man sich erarbeiten", sagt Christian Kaisan, "indem man besser ist als die anderen."

Der Abiturient, in einem Broilergrill beschäftigt, ist bald mittendrin in der halblegalen Spielerszene der Messestadt. Tagelang sitzt er in der Deutschen Bücherei und studiert Literatur zum Thema Wahrscheinlichkeit, Glück und Zufall. In den Nächten dann wird in privaten Wohnzimmern gezockt, dass es kracht. Hier dreht sich die Kugel zuweilen um ein Facharbeiter-Jahresgehalt, es geht um Sein und Nichtsein und noch ein paar Pfennig mehr. Eines Sonntagsabends, die Spielrunde sitzt seit Freitagfrüh, passiert es: Christian Kaisan sprengt die Bank, gewinnt den Kessel und das Anrecht, nun selbst Spiele anbieten zu dürfen.

Das ist eine Lizenz zum Gelddrucken. Im Broilerladen steht Kaisan nun nur noch zur Tarnung. Sein richtiges Leben spielt in einer Parallelwelt, in der die Kugel rollt und die Scheine knistern. Auf dem Konto türmen sich bald 150 000 Mark, vor der Tür stehen zwei Dacia und ein Melkus-Sportwagen. Es gibt sowjetische Krimsekt und teure Ferien - "nur glücklich war ich nicht", erinnert sich Kaisan. Einmal in Bulgarien hat er die Taschen voll Geld. "Trotzdem war der Rasen vorm Hotel vertrocknet, der vor dem Hotel der Westler nicht."

Dass er sich in diesem Augenblick entschließt, die DDR zu verlassen, wird Casinos rund um den Erdball später Millionen kosten. Erstmal aber muss er selbst zahlen: Ein korrupter Stasi-Offizier ist bereit, gegen 50 000 Mark dafür zu sorgen, dass Kaisans Ausreiseantrag beschleunigt bearbeitet wird.

So steht der schon im Mai 1981 in Hamburg, im Gepäck 15 000 schwarzgetauschte Westmark und den Plan, in den richtigen Casinos weiterzumachen wie bisher. Mit dem Gewinnen aber ist es im Westen nicht so einfach. "Fast vier Jahre lang", sagt Christian Kaisan, "bin jeden Tag in die Spielbank und habe nur geguckt." Die Miete verdient er als Kellner auf St. Pauli, im Hinterkopf kreist der Plan vom großen Gewinn am Spieltisch.

Es gibt kein System, mit dem man beim Roulette sicher gewinnt, weiß Christian Kaisan. "Die Kugel erinnert sich nicht, wo sie vorhin gelandet ist", sagt er. Zugleich aber ist der Zufall am Roulettetisch eben kein reiner, unverfälschter. "Mal hat der Kessel einen Höhenschlag, mal eiert er." Der Lauf der Kugel im Kessel sei ein physikalischer Vorgang und als solcher berechenbar. "Du musst nur genügend Informationen haben und sie schnell genug verwerten können." Jeder Kratzer, jede Eigenheit eines Tisches beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Zahl fällt oder nicht fällt. "Wenn ich also die Eigenheiten finde, finde ich auch meine Zahl."

Natürlich haben sie ihn belächelt, den Mann mit dem sächsischen Akzent, der immer nur schaute und schrieb, schrieb und schaute. Bis der Kesselgucker, wie die Branche Spieler wie Kaisan nennt, zu setzen beginnt. Und abräumt: 70 000 Mark am ersten Abend.

Seitdem hat der durchtrainierte Hobby-Radler rund vier Millionen Euro Gewinn von den Spieltischen in Hamburg, Las Vegas und Monte Carlo geschoben. Seine Methode ist immer dieselbe: Kaisan beobachtet, wie sich der Kessel dreht. Wie lange die Kugel hoppelt. Und wohin sie fällt. Wenn er den Rhythmus erkannt hat, spielt er: Vom Moment, in dem der Croupier die Kugel wirft, bleiben ihm fünf Atemzüge zum Schauen, Rechnen und Setzen bis zum "Rien ne va plus".

Man brauche ein bestimmtes Talent dazu, glaubt Kaisan, der in einem Vierteljahrhundert an den Spieltischen der Welt Unzählige hat scheitern sehen. Ein Profi dürfe nie "heißlaufen und anfangen, zum Spieler zu werden". Das gestattet er sich nur außerhalb der Casino-Säle: Er kauft sich einen Lamborghini und ein Schloss im Harz, geht auf Reisen und genießt das Leben. Im Job hingegen treibt Kaisan das Kesselgucken zur Perfektion: Um die Laufzeit der Kugel exakt zu messen, benutzt er zeitweise eine Stoppuhr, die mit einem Auslöser im Schuh gestartet wird. Das sehen die Casinos gar nicht gern - der "Sachse" landet auf der schwarzen Liste. Nicht wegen der Verluste, die er den Casinos beschert. Sondern wegen Schlimmerem: Leute wie Kaisan unterminieren die Geschäftsgrundlage der Spielbanken, weil sie der Beweis dafür sind, dass eben nicht nur Glück zu großen Gewinnen verhelfen kann.

Nach der Sperre, erzählt Kaisan, sei das Spannende für ihn nicht das Spielen gewesen, sondern die Frage, ob man ihn spielen lassen werde. "Dass ich gewinne", sagt er, "wusste ich ja." Auch vor Gericht: Bis zum höchsten Gericht in Österreich muss er gehen, um an den Spieltisch zurückkehren zu dürfen.

Doch als es soweit ist, sind die Zeiten der märchenhaften Gewinne vorbei. Heute überwachen Computer elektronisch gesteuerte Kessel, jede Abweichung von der normalen Zufallsstreuung wird registriert und korrigiert. "Die Kessel drehen auch zu schnell", sagt Christian Kaisan, "da ist mit bloßem Auge nichts mehr zu machen."

Ein Profi aber darf sich nicht einfangen lassen von der Versuchung, es trotzdem zu probieren. Wer feuchte Hände hat, kann nur verlieren, sagt Kaisan. Und wer spielt, wo die Chancen gegen ihn stehen, hat schon verloren. Christian Kaisan ist entschlossen, ein Gewinner zu bleiben: Seit einigen Monaten wohnt er wieder in Leipzig, in einer Wohnung in bester City-Lage. Ein netter drahtiger Herr mit breitem Lächeln, der tagsüber viel in Fachbüchern liest. Nachts spielt Christian Kaisan neuerdings Online-Poker. Er schnuppere noch, sagt er. Wisse aber schon ziemlich sicher, dass da eine Menge zu holen sei.