Wandern in East Sussex Warum Südengland im Oktober besonders entspannend ist
England hat vieles zu bieten – etwa spektakuläre Landschaften im Süden. Im Herbst lohnt sich ein Besuch besonders: Die Nebensaison ist ruhiger und günstiger. Unterwegs auf dem Seven-Sisters-Walk.

Bighton/Eastbourne - Im Oktober noch mal die Taschen packen und etwas Abstand zum Alltag gewinnen, Kraft tanken für den Jahresendspurt. Die Idee haben viele. Auf den Trubel vieler Menschen habe ich aber keine Lust, und für ein paar Extrasonnenstunden viel Geld ausgeben will ich auch nicht. Also habe ich mir ein Urlaubsziel ausgesucht, das sonst vor allem im späten Frühjahr und Sommer beliebt und nicht ganz günstig ist: die Südostküste von England mit den bekannten Badeorten Brighton und Eastbourne.
Ich will den Seven-Sisters-Cliff-Walk wandern, ohne mit anderen Touristen im Gänsemarsch zu gehen. Also packe ich Mitte Oktober meine Sachen und mache rüber nach England. Ich werde nicht enttäuscht: Schon die Städte, die im Sommer erfahrungsgemäß proppevoll sind, sind weniger überlaufen, alles ist entspannter.
Und die Auswahl an preiswerten Zimmern ist größer: In Brighton zahle ich für ein kleines sauberes Zimmer im Zentrum nur wenige Meter vom Strand entfernt unter 100 Pfund (entsprechen um 115 Euro). In Eastbourne ebenfalls am Strand und zentrumsnah sind es 75 Pfund - sogar mit Frühstück à la carte. Aber wird meine Rechnung auch bei der Wanderung aufgehen? Werde ich in Ruhe die Landschaft und das Brennen in den Beinen genießen können, oder aufpassen müssen, nicht auf Fotos Fremder verewigt zu werden?
Noch lächelt die Sonne müde
Um das herauszufinden, räume ich an einem Sonntagmorgen in aller Frühe mein kleines Zimmer in Brighton und mache mich mit etwas Proviant im Rucksack auf den Weg zum Bus, der mich zum Ausgangspunkt der Wanderung entlang der Seven Sisters bringt. Die „Schwestern“ sind sieben strahlend weiße Kreidefelsen, die wie an einer Perlenkette aufgefädelt den Küstenabschnitt zwischen Seaford und Eastbourne in der Grafschaft Sussex prägen.
Bei diffusem Sonnenschein präsentieren sie sich mir dann auch in ihrer vollen Pracht, ragen wie Baisertorten aus dem Meer hervor. Die Flut, die Wasser und Sedimente gen Küste drückt, sorgt für ein Farbenspiel im Ärmelkanal: milchig-mintgrün bis türkis in Richtung Land, taubenblau weiter draußen. Kein Mensch weit und breit - was möglicherweise auch an der für einen Sonntag fast unchristlichen Zeit von 8 Uhr morgens liegt. Aber von nichts kommt nichts.
Und als wäre das alles nicht schon schön genug, lugt irgendetwas Dunkelbraunes aus den Wellen hervor und erregt meine Aufmerksamkeit. Erst spielt mein Hirn mir einen Streich und ich denke ernsthaft, es seien die Rückenflossen von Haien. Aber dann fangen sich meine Synapsen und ich erkenne: Robben. Es sieht aus, als wäre auch ihnen klar, dass Sonntag ist, sie treiben im Wasser rum, tauchen auf, tauchen ab.
Auch für mich geht es auf und ab. Den Podcast, den ich mir für die 21 Kilometer lange Wanderung heruntergeladen habe, brauche ich nicht. Erstens würde ich ihn eh nicht hören, so laut ist der hier noch mäßige Wind, der sich mit dem Tosen der Wellen unter mir und dem Geschrei der Möwen über mir zu einer Art Meditationsmusik verbindet. Und zweitens beschäftigen die Geräuschkulisse und die schöne Landschaft mein Hirn genug, Gedanken abseits der Wanderung werden von allein ganz leise.
Ebbe und Flut: Ein Umweg, der kein Umweg ist
Erst am Fluss Cuckmere, der den Strand Cuckmere Haven bei Flut in zwei Teile trennt, sehe ich wieder Menschen. Und lerne Amber kennen, eine sechs Monate junge Hündin, die sich sehr für den kleinen Strandabschnitt begeistern kann, an dem sie herumtollt - und für mich. Ich plaudere kurz mit ihrem Besitzer. Er aber bleibt für mich namenlos.
Bei Ebbe könnte ich nun einfach über den Strand weiterlaufen und die erste der sieben Schwestern erklimmen. Aber die Flut macht mir einen Strich durch die Rechnung, sie presst das Wasser in die Mündung des Cuckmere. So ist es zu tief und die Strömung zu stark, um gefahrlos durchwaten zu können. Anstatt etwa 50 Minuten Fußweg zu sparen, laufe ich landeinwärts zu einer kleinen Brücke, und werde auch hier nicht enttäuscht: Gänse, Schafe, Kormorane, Pferde, wilde Brombeeren.
Und: noch mehr Menschen. Es sind überwiegend Einheimische, sie lüften ihre Köpfe, Kinder und Hunde. Der Wind hat aufgefrischt, das diffuse Sonnenlicht ist einem sehr eindeutig grauen Himmel gewichen. Auch schön, englisch irgendwie.
Schwester Nummer eins heißt Haven Brow und der Blick von oben zurück ist beeindruckend. Mir gefällt, was ich sehe. Es motiviert mich zum Weitergehen. Wieder geht es auf und ab, diesmal steiler, häufiger: klar, siebenmal. Immer mal wieder entdecke ich Robben im Wasser.
Auf dem eigentlichen Seven-Sisters-Weg sind nun mehr Menschen unterwegs. Erstmal ist es vorbei mit der völligen Einsamkeit, die ich auf dem Weg von Seaford bis Cuckmere Haven genossen habe. Es ist trotzdem überschaubar, Oktober eben. An einem Wochentag wären es wohl noch weniger Menschen, denn es sind vor allem Spaziergänger, die nur einen kleinen Teil des Wegs laufen, Joggerinnen, auch eiserne Radfahrer.
Und dann sind da doch noch ein paar herangekarrte Touristen. Denn hinter der siebten Schwester befindet sich am Birling Gap ein Parkplatz, samt Café und Shop. Letztere sind sogar ganz nett. Von hier aus ist es nur noch ein kurzer Weg zum Beachy Head. Dieser Felsen gehört nicht zu den sieben Schwestern, die wie die Orgelpfeifen aufgereiht hintereinanderstehen - aber er ist mit 162 Metern der höchste Kreidefelsen Großbritanniens, und einen klassisch rot-weißen Leuchtturm gibt es auch.
Und dann endlich: Regen!
Zwei Dinge kommen mir auf meinem weiteren Weg nun zugute: Es fängt an zu regnen, und viel spannender wird es landschaftlich nicht - wenn man nicht das Laufen an sich als (ent)spannend empfindet. Denn ab jetzt sehe ich nur noch sehr vereinzelt andere Leute, und sie kommen mir vor allem entgegen, um vom Regen schnell wieder ins trockene Auto zu kommen. Ich ernte verwunderte Blicke und werde hier und da aufmunternd angelächelt.
Dabei sind es genau der Regen und der mittlerweile stürmische Wind, die diesen Teil der Strecke für mich interessant machen. Denn während es zuvor ohne weiteres möglich war, bis an den Abgrund zu gehen und runterzuschauen - und wenn man nicht aufpasst, auch runterzufallen -, gibt es hier auf einmal Begrenzungen. Vermutlich wird deshalb in einigen Reiseblogs geraten, von hier an nicht weiter nach Eastbourne zu gehen, sondern in East Dean den Bus entweder dorthin oder zurück nach Seaford oder Brighton zu nehmen.
Spektakuläre und riskante Blicke in die Tiefe gibt es hier nicht mehr, dafür Einsamkeit. Obwohl es an sich nicht kalt ist, lähmen Wind und Regen die Finger, die kühle Luft bläst in die Kapuze. Die Gedanken, die eh schon ganz leise waren, sind nun vollends verstummt. Sie kommen gegen das Nirgendwo zwischen Birling Gap und Eastbourne nicht an. Wunderbar!
Und dann auf einmal tut sich die Kulisse einer Stadt hinter grünen Hügeln auf. Verwaschen liegt Eastbourne vor mir. Bis ich wirklich in der Stadt bin, brauche ich ab hier noch über eine Stunde. Aber auch das: kein Ärgernis. Ich laufe - noch immer mit Blick aufs Meer - einen schmalen Pfad an einem Hügel entlang. Es ist nun keine Wiesenlandschaft mehr, sondern teils dichtes Gestrüpp, aus dem sich Bäume fast verwunschen aus dem Boden schrauben. Knorrig, neblig, feucht.
Manchmal muss ich über die Klischeehaftigkeit der Szenerie fast lachen. Aber dann bin ich vor allem froh, dass ich Mitte Oktober in den Süden von England gefahren und die 21 Kilometer von Seaford nach Eastbourne gelaufen bin. Ich weiß nicht genau, wieso, aber ich bin fast ein bisschen gerührt. Vielleicht liegt es daran, dass meine eigenen Gedanken sechs Stunden lang zum Schweigen verurteilt waren, während meine Muskeln die Regie übernommen haben.
Tipps, Links, Praktisches:
Anreise: Mit dem Eurostar oder per Flugzeug täglich etwa bis London. Von dort mit dem Zug oder Fernbus nach Brighton oder Eastbourne. Vor Ort verkehren Busse.
Übernachtung: In London (deutlich längere An- und Abreise) sowie in Brighton, Newhaven oder Eastbourne gibt es von einfachen Zimmern in Guesthouses, Hotels oder Ferienwohnungen eine große Auswahl an Übernachtungsmöglichkeiten - von günstig bis luxuriös. Am besten frühzeitig buchen. Tipp: Brighton ist die lebendigere Stadt, sie hat auch abseits der Saison viel zu bieten und lohnt einen Besuch.
Vorbereitung: Der Weg ist technisch nicht anspruchsvoll, aber durch die Auf- und Abstiege anstrengend. Festes Schuhwerk mit Profilsohle ist empfehlenswert, außerdem Lagenlook, da Aufstiege schweißtreibend sind, der Wind aber frisch wehen kann. Zwecks Cuckmere-Querung Gezeiten vorab checken.
Einkehren: Entlang der Wanderung gibt es wenige Möglichkeiten, um auf die Toilette zu gehen oder etwas zu essen und zu trinken zu kaufen. An der Brücke über den Cuckmere landeinwärts gibt es einen Pub, das Cuckmere Inn. In Birling Gap gibt es ein National-Trust-Café, betrieben von der örtlichen Naturschutzorganisation.
Wissenswertes: Die sieben Schwestern heißen von Cuckmere aus gesehen Haven Brow, Short Brow, Rough Brow, Brass Point, Flagstaff Point, Flat Hill, Baily’s Hill und Went Hill Brow. Beachy Head ist mit seinen 162 Metern als höchster Kreidefelsen Großbritanniens bekannt (zum Vergleich: Der Königsstuhl auf Rügen ist 118 Meter hoch), gehört aber nicht zur Reihe. Die Felsen gehören zum Nationalpark South Downs.