Stralsund Stralsund: Heringskönig und Piratenskat
Halle (Saale)/MZ. - Ein seltsames Monstrum baumelt von der gläsernen Decke des Foyers im Ozeaneum. Siebeneinhalb Meter lang und 100 Kilo schwer. Mit leuchtend roter Rückenflosse, die einer Pferdemähne ähnelt. Und übersät mit sage und schreibe 550 000 Warzen, die Präparatoren und Modellbauer per Hand auf die blau-silbrige Haut aufgetragen haben.
Dieses eigenartige Wesen ist ein Riemenfisch. Äußerst selten in der Natur zu beobachten und aufgrund seiner Gestalt schon vor Jahrhunderten fabelhaft geeignet für allerlei grauslige Legenden rund um Seeschlangen und Meerungeheuer. Die imposante 1:1 Nachbildung des Meeresriesen können Ozeaneum-Besucher seit März bestaunen.
In Europas Museum des Jahres 2010 ist das aber beileibe nicht die einzige Novität. Gerade zogen neue anspruchsvolle Nordsee-Exoten in eigens für sie gebaute Aquarien: der rare Heringskönig, der seine Rückenflosse zu einer Zackenkrone aufstellen kann. Die Seepferdchen aus den Graswiesen, für die sogar Jahreszeiten simuliert werden müssen. Oder die Kaltwasserkorallen aus 350 Meter Tiefe, die mundgerecht gezüchtetes Plankton bekommen und ultraviolettes Licht zum Leben brauchen.
Auf dem Dach des Hauses tollt seit kurzem der erste Humboldt-Pinguin-Nachwuchs auf dem Felsen vor der schmucken Altstadtkulisse herum. Auch zur Freude der Tierpfleger, die das Kleine gesund durch die Quarantäne bekamen und jetzt mit jeweils fünf Weibchen und Männchen ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis haben.
Wie Spezialisten den Geheimnissen der Tiefsee auf die Spur kommen, zeigt die neue Dauerausstellung "Erforschung und Nutzung der Meere". Höhepunkt: eine zehnminütige Tauchfahrt-Simulation mit Original-Unterwasseraufnahmen von Forschungsexpeditionen. Und unter historischen Kupfertauchhelmen können kleine und große Besucher einem kindgerechten Hörspiel über die Tauchpioniere Cousteau und Piccard lauschen.
Keine Frage: Das 2008 eröffnete Ozeaneum hat als Besuchermagnet selbst kühnste Erwartungen weit übertroffen. Doch auch im Schatten dieses Leuchtturms passiert so allerlei in der ehrwürdigen Hansestadt, worüber sich Einheimische wie Gäste freuen können.
Da glänzt zuallererst die Schritt für Schritt liebevoll aufpolierte Welterbe-Altstadt rund um das sechsgieblige Rathaus jeden Tag ein bisschen heller. Da überragen gleich drei gotische "Rote Hünen" die Kulisse aus Stadtmauern und Giebelhäusern und verführen zu staunender Einkehr in ihre restaurierten kreuzrippengewölbten Schiffe oder - dank herausragender Orgeln in Nikolai- und Marienkirche - zu umwerfenden Klangerlebnissen. Da überrascht eine für die vergleichsweise kleine Stadt durchaus reichhaltige Museumslandschaft mit Meeresmuseum und dem Ozeaneum als Flaggschiffen.
Aber auch etliche kleine Farbtupfer haben Stralsund in jüngster Zeit bunter und attraktiver gemacht: die sehenswerte Ausstellung zum Kultur- und Naturerbe der Menschheit in einem Palais direkt am Rathaus. Gleich darüber der Hackertsche Tapetensaal mit sechs penibel restaurierten wunderbaren Wandgemälden von 1762. Die erstklassige Hundertwasser-Ausstellung in der Kulturkirche St. Jacobi. Und das Jugendstil-Theater, das außen wie innen wieder so strahlt wie vor über 90 Jahren zur Eröffnung.
Etwas fürs Auge, aber auch für Kopf und Hände, gibt es in der Spielkartenfabrik am Katharinenberg. An historischem Standort - immerhin war Stralsund bis 1931 eine Hochburg deutscher Spielkartenproduktion - stehen heute in einer Museums-Werkstatt sechs funktionierende alte Druckereimaschinen, die nicht nur Technik-Fans begeistern. Zum Beispiel das Linotype-Monstrum. Tippt ein Setzer Buchstaben in das schwarze Ungetüm, setzt sich eine kunstvolle Mechanik aus Schwungrädern, Transportbändern und Tasthebeln in Gang. Reiht metallene Matrizen zu Zeilen aneinander. Gießt diese anschließend mit flüssigem Blei aus und führt die Gussformen zum Schluss automatisch wieder in das Schriftmagazin zurück. Ein ungemein faszinierender Prozess.
An den historischen Maschinen werden nach wie vor Spielkarten produziert. Nach historischem Vorbild und auf handgeschöpftem Papier etwa ein Blatt aus Wallensteins Zeiten, aber auch originelle Eigenkreationen wie der Piraten-skat mit seinen unheimlichen Typen. An vielen Wochenenden finden zudem zweitägige Workshops und Intensivkurse statt: für Typo-graphie und Buchdruck, für Druckgraphik und Buchbinden, für Papierschöpfen und selbstverständlich für Gestaltung und Produktion eigener Skatblätter.
Nicht zuletzt gab es in diesem Jahr auch lang ersehnten Zuwachs an hochwertiger Hotellerie. Und das gleich im Doppelpack. So verwandelte sich mit erheblichem Aufwand und unter strengen Denkmalschutz-Auflagen das ehemalige DDR-Ordnungsamt direkt am Sund in die moderne und stilvolle Hafenresidenz mit Blick auf Altstadt, Ozeaneum, Großsegler Gorch Fock und Insel Rügen. Ein echter Hingucker im Ensemble ist das Restaurant "Fürst Wizlaw I", in dem klassisch-modernes Design mit den sorgsam erhaltenen technischen Elementen eines einstigen Pumpenwerks verbunden wurde.
Noch dichter an den Sehenswürdigkeiten der Altstadt steckt hinter zwei backsteinroten Giebelhäusern aus dem 14. Jahrhundert der Scheelehof - ebenfalls ein schickes Hotellerie-Kleinod mit großartig in die alten Gemäuer integriertem Restaurant, uriger Kellerkneipe und hauseigener Kaffeerösterei.
Ganz zum Schluss ein Tipp für die Adventszeit. Dann nämlich lässt Stralsund seinen Weihnachtsmarkt in den Untergrund abtauchen - in die frisch renovierten riesigen Gewölbe unter dem Rathaus. Eine mit Sicherheit stimmungsvolle Lösung. Und eine wetterfeste allemal.