Spanien Spanien: Insel Tabarca - ideal für Aussteiger

Die Jungs spielen im April noch Fußball in den Gassen zwischen den niedrigen Quaderhäuschen. Im Mai radeln die Mädchen noch mitten durch dieses Spielfeld von drei Metern Breite und gut 200 Metern Länge hindurch, und einen Moment lang unterbrechen die Jungs dafür jedes Mal ihr Spiel. Anfang Juni sitzen die Alten noch auf wackeligen Holzstühlchen vor ihren in kräftigem Blau oder in Giftgrün getünchten Haustüren auf der Insel Tabarca. Danach sind sie alle verschwunden, einen Sommer lang bei Tag so unsichtbar wie der Mond. Erst spät an den Abenden, erst zu Einbruch der Dunkelheit kommen sie langsam wieder aus ihren Rückzugswinkeln hervor und erobern durch bloße Präsenz ihre Insel für die Stunden der Nacht zurück: die Strände, die Klippenküsten, die Agaven, die in prächtigem Rot und Orange blühenden Hartlaubgewächse entlang der Küsten. Und ab Mitte September ist endlich wieder alles wie im April und im Mai.
Im Sommer, während der drei Monate der Saison, aber ist tagsüber zu viel los auf Tabarca, zu viel Andrang auf die kleine Seefahrer- und Fischerinsel elf Seemeilen vor der spanischen Mittelmeer-Küstenstadt Alicante - Hochsaison auf dem einstigen Piraten-Eiland, das heute vor allem von den Tagesbesuchern lebt.
Erst wenn das letzte Ausflugsboot zurück zum Festland - nach Santa Pola, nach Guardamar, in den Stadthafen von Alicante oder nach Campello - wieder abgelegt hat und nur noch die Gäste der weniger als 20 Zimmer in zwei kleinen Hotels in den Straßen unterwegs sind, dann kommen auch die Einheimischen wieder vor, öffnen sich plötzlich Holztüren zu lauschigen Innenhöfen. Erst treten die Kinder der Tabarceños wieder heraus und bringen die Fahrräder und Fußbälle mit, dann Eltern und Großeltern.
Nur die Pensionäre und die Kinder haben dann Zeit, die wiedergefundene Feierabendruhe zu genießen. Denn die meisten anderen sind zu geschafft dafür. Sie mussten den Tag über in den Restaurant-Küchen arbeiten, Boote fahren, Eis verkaufen. Denn in jenen drei Monaten, wenn das Geschäft brummt, müssen sie das Geld fürs ganze Jahr verdienen.
Es ist dann, als ob alles Mobiliar der Insel in den Straßen steht, jeder Tisch, jeder Stuhl, jeder Sonnenschirm. Die sonst so kleinen Lokale wuchern auf Straßen und Plätze. Jedes Stück Stellfläche ist kostbar - und begehrt, wenn die vielen Badegäste der Playa Grande ihre Laken im Sand verlassen und zum Mittag herbeiströmen. Eisgekühlte Cola oder Bier gibt es dann. Oder Alicantiner Wein. Dazu meist gegrillten Fisch - fangfrische Dorade oder Rotbarbe. Oder in seiner eigenen Tinte gegarten Octopus. Außerhalb des Sommers aber gibt es eindeutig zu viel Gestühl auf der Insel, die gerade mal 1 800 Meter in der Länge und maximal 400 Meter in der Breite misst.
Salvador Diaz erinnert sich nicht mehr, wie oft er schon hergekommen ist. Er hat längst aufgehört zu zählen. Der stämmige kleine Mann mit der sonnengegerbten Gesichtshaut ist Berufspendler im wörtlichen Sinn. An manchen Sommertagen schaut er gleich viermal vorbei. Seit über 40 Jahren fährt er auf Ausflugsbooten, erst als Matrose, inzwischen längst als Kapitän. Auf See kennt er in seinem Fahrtgebiet jede Untiefe, an Land auf Tabarca jeden Kieselstein. „Weißt Du“, sagt er, „hier auf dem Wasser bin ich zuhause. Es ist mein Wohnzimmer. Die Insel ist mein Esszimmer, auch mein Garten. Da mache ich Mittagspause, da ruhe ich aus. Ich freue mich jedes Mal, wenn ihr Leuchtturm näher rückt, wenn die quadratische Festung, die mal Gefängnis war, in den Blick gerät.“ Sein Schlafzimmer aber ist Tabarca nicht. „Zu viel Einsamkeit, sobald die Tagesbesucher weg sind“, sagt er. „Zu still für mich.“ Er wohnt in Alicante auf dem Festland.
Es gibt andere, die extra bleiben, um die Stille dieser Abende zu erleben, wenn die Alten ihre Holzstühlchen vor die Türen stellen, um die Kinder in den Straßen wieder Fußball spielen zu sehen oder Abendandacht in der kleinen Inselkirche Iglesia San-Pedro-y-Pablo zu halten. Und in aller Ruhe mit Meerblick den Fisch zu essen, wenn die Kellner wieder Zeit haben - und auf Anhieb ein Platz zu bekommen ist. Die paar Zimmer auf Tabarca sind deshalb schnell ausgebucht: weil es sich gut anfühlt, plötzlich für ein, zwei Nächte dazu zu gehören und den Wandel der Insel mit den zwei Gesichtern aus der Nähe zu erleben. Dennoch lassen sich auch bei Tag in der höchsten Hochsaison noch stille Winkel finden, wo es sich in Ruhe sitzen, schauen und nachdenken lässt: mit den Beinen baumelnd auf der Festungsmauer an der Westküste zum Beispiel. Oder im kleinen Kirchgarten. Und auf dem unbesiedelten Nordzipfel jenseits der Strände, wo der Leuchtturm als Ausrufezeichen in den blauen Himmel ragt und die Festung gerade restauriert wird. Hier lässt es sich im Grünen picknicken, und das Konzert dazu spielen die Wellen, die ein paar Meter entfernt an den Felsen zerbrechen. Und aus der Ferne trägt der warme Levante-Wind Zeilen aus irgendeinem Song von Julio Iglesias herüber, der in den Boxen einer Bar eingesperrt zu sein scheint.
Jahrhunderte lang war das Inselchen offiziell unbewohnt und inoffiziell ein Piraten-Unterschlupf in strategisch idealer Lage so knapp vor der spanischen Festlandküste. Nur etwa 30 Menschen leben heute ganzjährig auf Tabarca, über 300 sind es im Sommer. Und manch einer behauptet augenzwinkernd, noch von den in der Mitte des 18. Jahrhunderts vertriebenen Piraten abzustammen. Er weiß, dass so ein Spruch gut ankommt - und dass sowieso nicht mal er selber sicher sein kann, ob etwas dran ist.
