Kannibalen & Mongolenkaiser Kannibalen & Mongolenkaiser: "Buch des Reisens" erzählt von 2000 Jahren Fernweh

Aufbrechen, Neues entdecken, den eigenen Horizont erweitern: Die Sehnsucht nach der Ferne ist so alt wie die Menschheit selbst. Seit jeher sind die Menschen unterwegs – bis heute, obwohl jeder noch so abgelegene Ort auf dieser Erde längst erforscht ist.
Warum reisen Menschen eigentlich? Was waren ihre Motive vor 2000 Jahren und welche sind es heute? Wohin fuhren sie damals und wohin reisen sie im 21. Jahrhundert? Welche Abenteuer erlebten sie und welche Eindrücke bringen sie heute mit nach Hause? Diesen Fragen geht Rainer Wieland in seinem neu erschienenen „Buch des Reisens“ nach. Darin hat er Reiseberichte aus aller Welt gesammelt. Der erste stammt von Hanno, einem karthagischen Seefahrer, der 470 vor Christus auf der Suche nach neuen Handelsrouten Westafrika erkundete.
Zwar brachen die Menschen schon viel früher zu Reisen auf, wie anhand archäologischer Funde nachgewiesen ist. Faustkeile, Speerspitzen und Tonscherben zeugen von frühen Völkerwanderungen. Aber wie Wieland in seinem Buch schreibt, geben Reiseberichte erst seit der Erfindung der Schrift vor rund 5000 Jahren Auskunft über die Erlebnisse von Seefahrern, Forschern und Künstlern.
Und so schließt das Buch passenderweise mit dem Reisebericht eines Schriftstellers. Ironisch und gleichsam selbstkritisch beschreibt der englische Autor David Foster Wallace in „Luxuskreuzfahrt in der Karibik“ den Kreuzfahrt-Boom unserer Zeit.
Marco Polo beim Mongolenkaiser in Peking
Zwischen Hanno und Wallace lässt Wieland 67 weitere abenteuerlustige Männer und Frauen zu Wort kommen: Zum Beispiel den venezianischen Kaufmann Marco Polo, der 1275 als 17-Jähriger an den Hof des Mongolenkaisers Kublai Khan nach Peking kam und anschließend als dessen Diplomat Tibet, Birma, Vietnam und Thailand bereiste. Zurück in Italien diktierte Marco Polo 20 Jahre später einem Schriftsteller seine Eindrücke.
Über den kaiserlichen Palast berichtet er: „Die Wände der Säle und Kammern sind mit Gold und Silber ausgekleidet. Drachen sind dargestellt, Tiere, Vögel, Reiter und noch vieles andere. Der Hauptsaal ist so groß, dass ohne weiteres mehr als sechstausend Menschen drin speisen können. Das Dach spielt in allen Farben; wie Kristall leuchten die kräftigen Lackfarben, so dass man schon von weitem den Palast glänzen sieht.“ Beeindruckt fasst der Italiener zusammen: „Der riesige Palast ist ein Meisterwerk. Kein Potentat wäre imstande, sich einen schöneren auszudenken und bauen zu lassen.“
Schlaflose Nacht in einer afrikanischen Hütte
Ein anderes eindrückliches Erlebnis schildert beispielsweise die Engländerin Mary Kingsley, die 1895 als Forscherin nach Französisch-Äquatorialafrika (heute Kamerun und Gabun) reiste, um den Stamm der Fang kennenzulernen. Über ihre Nacht in einer für sie freigeräumten Hütte eines Häuptlings schreibt sie: „Als ich erneut aufwachte, bemerkte ich in der Hütte einen üblen Gestank eindeutig organischen Ursprungs, der wohl wegen der geschlossenen Tür nicht abziehen konnte.“
Kingsley verfolgt den Geruch zu Beuteln, die vom Gebälk herabhängen: „Um keinesfalls etwas Wertvolles zu verlieren, schüttete ich den Inhalt in meinen Hut. Es handelte sich um eine menschliche Hand, drei große Zehen, vier Augen, zwei Ohren und andere Teile des menschlichen Körpers. Die Hand war frisch, die anderen Überreste so lala und verschrumpelt.“
Nachdem sie die Körperteile zurückgelegt und den Sack wieder verschnürt hat, fasst die 33-Jährige trocken zusammen: „Später erfuhr ich, dass die Fang zwar ihre befreundeten Stammesmitglieder essen, doch zur Erinnerung gerne ein kleines Stück von ihnen aufbewahren. Obwohl diese Verhaltensweise angesichts der Umstände für sie spricht, ist es doch recht unangenehm, wenn die Überreste in dem Schlafzimmer hängen, in dem Sie die Nacht verbringen – insbesondere, wenn der betreffende Trauerfall in der Familie ihres Gastgebers noch nicht lange zurückliegt.“
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Für die Daheimgebliebenen stellten Reiseberichte, oft gespickt mit Zeichnungen exotischer Tiere und Landschaften, lange Zeit die einzige Möglichkeit dar, einen Eindruck fremder Länder zu bekommen. Das änderte sich erst mit der Erfindung der Fotografie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Selbst zum Touristen werden – dafür waren weitere Erfindungen nötig, Dampfschiffe, Eisenbahn, Auto und Flugzeug. Erst die Revolution des Transportwesens ermöglichte den einfachen Massen das Reisen.
Über seine erste Fahrt mit einer Eisenbahn am 10. November 1840 von Magdeburg nach Leipzig berichtet der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen vollkommen fasziniert: „Oh, welch großes Werk des Geistes ist doch diese Erfindung! Man fühlt sich ja mächtig wie ein Zauberer der Vorzeit! Wir spannen unser magisches Pferd vor den Wagen, und der Raum verschwindet; wir fliegen wie die Wolken im Sturm, wie der Zugvogel fliegt! Unser wildes Pferd wiehert und schnaubt, der schwarze Dampf entsteigt seinen Nüstern. […] Ich erinnere mich nur an wenige Momente in meinem Leben, in denen ich mich so ergriffen gefühlt habe.“
Auf der Suche nach dem einen Ort
Über all die Jahrtausende hinweg scheint den Fernwehgeplagten, denen Rainer Wieland in seinem Buch eine Stimme gibt, ein ähnliches Motiv gemein zu sein. „Ständig ist der Mensch auf der Suche nach einem anderen Ort, an dem irgendetwas besser ist – wo es wärmer oder schöner ist“, zitiert der Autor den englischen Journalisten Michael Palin. Wieland selbst fasst diese Erkenntnis so zusammen: „Von jeher trieb die Reisenden die Lust, ins Unbekannte vorzustoßen und die weißen Flecken auf den Landkarten der Erde zu tilgen.“
Weiße Flecken auf der Landkarte gibt es heute allerdings so gut wie gar nicht mehr. Der aufgeklärte Reisende von heute wisse, schreibt Rainer Wieland, dass er niemals der Erste sein werde, immer schon seien andere vor ihm da gewesen.
Reisen im Zeitalter der Globalisierung
Doch welchen Sinn und Zweck erfüllt das Reisen dann heute in einer Zeit, in der Bücher und Blogs jede noch so abgelegene Sehenswürdigkeit, jedes noch so versteckte Hotel auflisten, und jede noch so fremde Kultur genauestens beschreiben? In einer Zeit, in der die großen Entdeckungsreisen längst vergangen sind? Was finden wir, wenn wir unser Zuhause verlassen und ein paar Tage, Wochen oder Monate in der Fremde verbringen?
Die Antwort auf diese Fragen ist vermeintlich einfach: „Eine jede Reise ist auch eine Reise zu sich selbst“, schreibt Wieland. „Wir erkennen, dass der Ort, an dem wir unsere Zelte aufgeschlagen haben, nicht der Nabel der Welt ist. Unser Geist kommt in Bewegung, und wir spüren, dass wir lebendig sind.“
Vielleicht schließt sich daran noch eine weitere Erkenntnis an. Der römische Philosoph Seneca hat sie bereits vor 2000 Jahren so formuliert: „Dein jetziges Treiben ist kein Reisen, nein, es ist ein Umherirren, ein Sichumhertreiben und Wechseln des Ortes, während das, wonach du suchst, ein lobenswertes Leben, an jedem Orte zu finden ist.“
Informationen zum Buch
Rainer Wieland: „Das Buch des Reisens – von den Seefahrern der Antike bis zu den Abenteurern unserer Zeit“, erschienen im Propyläen Verlag, 493 Seiten, 48 Euro.






