Äthiopien Äthiopien: An den Wassern des Blauen Nils

Berlin/dpa - Es gibt Geräusche, die man nicht zuerst mit den Ohren wahrnimmt. Man spürt sie wie tiefe Basstöne im ganzen Körper. Die donnernden Wasserfälle des Blauen Nils fühlen wir - lange, bevor wir nach einer Wanderung durch das malerische Hochland von Abessinien atemlos vor ihnen stehen. „Tisissat“ – rauchendes Wasser – nennen die Einheimischen das gewaltige Naturwunder im Nordwesten Äthiopiens.
Bevor sich die schlammbraunen Fluten während der Regenzeit über eine Breite von 400 Metern in vier Hauptströmen 42 Meter in die Tiefe stürzen, vermischen sie sich mit dem Wasser von mehr als 30 anderen Flüssen im Tana Lake.
Der mit 1 830 Meter über Null höchstgelegene See Afrikas gehört wie die Nilfälle und die nahe gelegene alte Königsstadt Gonder mit ihren zahlreichen Palästen zu den beliebtesten Touristenzielen in Äthiopien. Ausgangspunkt für Bootsausflüge und Exkursionen zu den zahlreichen, oft von Klöstern besiedelten Inseln, ist Bahir Dar. In der mit 200 000 Einwohnern drittgrößten äthiopischen Stadt am südlichen Ufer des Sees ist der voranschreitende Fremdenverkehr deutlich spürbar.
Dass einheimische Hotelprojekte durchaus mit anspruchsvollen internationalen Häusern konkurrieren können, beweist das junge Kuriftu Resort und Spa, das zeitgemäßen Service mit ökologisch nachhaltigen Ansprüchen verbindet. Eigentümer ist ein äthiopischer Unternehmer, der nach 20-jähriger Geschäftstätigkeit in den USA in seine Heimat zurückgekehrt war und dieses sowie ein weiteres Resort in der Nähe von Addis Abeba aufgebaut hat. Beide Hotels gehören zu den führenden des Landes.
Von meinem Zimmer aus kann ich das gelb-braun-graue Wasser des Tanasees sehen, denn das Kuriftu liegt direkt am Ufer. Der große Pool davor macht in diesem Falle wirklich Sinn, denn baden sollte man lieber nicht im Tanasee. Grund sind die in den meisten afrikanischen Gewässern vorkommenden Pärchen-Egel – Saugwürmer, die als Larven von Schnecken verbreitet werden und Bilharziose verursachen können.
Das kleine Motorboot legt ab und tuckert gemächlich über den See. Nur die Tankwas – Papyrusboote der einheimischen Fischer, die auch als Transportmittel dienen – sind langsamer als wir. Trotz Sonnenscheins ist es noch recht kühl an diesem Morgen. Doch schon bald drängen sich alle Passagiere unterm Sonnendach...
Vor uns liegt Kebran, eines der insgesamt 37 Eilande des Tanasees. Vom Wasser aus sehen wir Mönche, die ein Boot entladen. Sie leben in Sankt Gabriel, einem der zahlreichen Klöster, die im Schutz des Sees errichtet wurden. Leider ist es für weibliche Besucher tabu. Wie die meisten der 19 Klöster und Kirchen im Tanasee dürfen Frauen zwar die Insel, nicht aber das klösterliche Territorium betreten. Während die Damen zu einem Picknick am Waldrand geladen werden, starten die Herren zu einer kurzen Exkursion ins Inselinnere.
Mittelpunkt des Klosters ist ein rundes Gotteshaus. Bauwerke dieser Art sind typisch für die äthiopisch-orthodoxe Tewahedo-Kirche, der vorherrschenden im Land. Zu Beginn des vierten Jahrhunderts verbreitete sich der christliche Glaube in dem afrikanischen Vielvölkerstaat, der damit neben Armenien und Georgien zu den ältesten christlich geprägten Staaten der Erde gehört. Wie fast alle äthiopischen Rundkirchen ist Sankt Gabriel voller farbiger Wandmalereien. Wertvolle handgeschriebene Bücher und kirchliche Kunstgegenstände bekommen wir im Schatzhaus des Klosters zu sehen. Neben Kebran gibt es 18 weitere Inseln im Tanasee, die Kirchen und Klöster beherbergen. An die 50 sakrale Orte mit entsprechenden Gebäuden sind an den Ufern des Sees und seinen Halbinseln zu finden.
Das Kloster von Zeghie ist unser nächstes Ziel – diesmal für die komplette Gruppe, denn die dort lebenden Mönche erlauben den Besuch von Frauen.
Da der Gottesdienst bereits begonnen hat, sind nur wenige Inselbewohner an der Anlegestelle. Kinder wollen den Neuankömmlingen Silberschmuck und hölzerne Kreuze verkaufen. Während wir uns beeilen, den heiligen Platz zu erreichen, begleiten uns die emsigen jungen Händler, huschen fast lautlos von einem zum anderen, bieten ihre hübschen Waren feil – scheu und unnachgiebig zugleich.
Nach zehn Minuten Fußweg durch den Wald haben wir das Kloster der Barmherzigkeit erreicht. Ein großer Rundbau – die Kirche Ura Kidane Mehret – steht auch hier im Zentrum. Unter freiem Himmel - um das hölzerne, strohbedeckte Gebäude herum - sitzen mehrere hundert Männer, Frauen und Kinder auf dem Boden, komplett weiß gekleidet, und lauschen der Predigt des Priesters. Manche Worte des alten Mannes werden vom Gezwitscher der Vögel und anderen Geräuschen des Dschungels übertönt.
Der Heilige Betre Mariyam hatte das Kloster schon im 14. Jahrhundert gegründet. Der heutige Kirchenbau wurde vor rund 500 Jahren errichtet. Nach dem Gottesdienst dürfen wir ihn betreten. Stolz präsentiert uns der Abt, der einen großen grünen Sonnenschirm trägt, die prachtvollen Wandmalereien, die biblische Motive in leuchtenden Farben zeigen. Sie entstanden vor 250 bis 100 Jahren. Die bedeutendsten dieser Werke stammen aus der Regierungszeit von Kaiser Menelik II., der 1844 bis 1919 lebte.
Unweit der Kirche überrascht uns ein windschiefes, eher armselig wirkendes Häuschen mit prunkvollem Inhalt: Im flackernden Licht einer Glühbirne, die offenbar selbst schon viele Epochen erlebt hat, bestaunen wir historische Roben, Jahrhunderte alte Handschriften und Ikonen sowie die echten Kronen äthiopischer Kaiser!