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Abgas-Skandal Abgas-Skandal: Genormte Produktion wird nicht nur VW zum Verhängnis

Von Ingo Leipner 07.10.2015, 14:59
Der VW-Konzern wurde an seiner Achilles-Ferse getroffen.
Der VW-Konzern wurde an seiner Achilles-Ferse getroffen. dpa Lizenz

Was vor den Toren von Troja geschah, trifft heute weltweit den VW-Konzern. Der griechische Held Achilles schien unverwundbar: seine Mutter Thetis hatte ihn als Kind tief in den Styx getunkt, ein Fluss, der laut Sage durch die Unterwelt fließt. Der trojanische Krieg hätte daraufhin ein Kinderspiel sein müssen.

Doch gerade der Kampf um Troja brachte Achilles ein Ticket ins Jenseits: Der magische Fluss umspülte nicht den einen Knöchel, an dem Thetis ihr Kind festhielt. Tödliches Pech: Der griechische Held fiel seiner „Achilles-Ferse“ zum Opfer, getroffen von einem Pfeil des Paris.

Was aber ist die „Achilles-Ferse“ des VW-Konzerns?

Es ist der „modulare Querbaukasten“ (MQB). In den Vereinigten Staaten tauchten unterschiedliche Modelle auf, bei denen die Abgasreinigung manipuliert wurde: „Jetta“, „Beetle“ und „Golf“ aus den Jahren 2009 bis 2015. „Außerdem“, so stellt Hans-Christian Dirscherl in der „PC-Welt“ fest, „ist der mit dem Golf technisch weitgehend identische Audi A3 betroffen, der ebenfalls auf dem Modularen Querbaukasten beruht.“

VW spricht dabei von einer „Revolution aus dem Baukasten“. Dazu lautet ausgerechnet eines der Konzern-Ziele, „den Verbrauch unserer Fahrzeuge erheblich zu senken“. Zudem hat sich Volkswagen vorgenommen, seine Fahrzeuge „zu weltweit wettbewerbsfähigen Kosten herzustellen und gleichzeitig die Profitabilität und Produktivität zu steigern.“

Das Prinzip: Dasselbe Bauteil lässt sich in unterschiedlichen Fahrzeugen einsetzen, die eine modulare Struktur erhalten. Ein Beispiel: Otto- und Dieselmotoren werden im selben Winkel montiert, wodurch „Abgasstrang, Antriebswellen und Getriebeeinbaulage vereinheitlicht werden“, so der Konzern. Der positive Effekt laut VW: „Das verringert die Zahl der Motor- und Getriebevarianten im MQB-System des Konzerns um fast 90 Prozent.“

Auf einen Schlag Millionen Fahrzeuge erwischt

Was aber bislang nach optimaler Produktion aussah, wird in diesen Tagen VW zum Verhängnis: Die manipulierte Software trat ihre Reise um den Globus an – und wurde als standardisiertes Produkt überall aufgespielt. Auf einen Schlag hat es Millionen Fahrzeuge erwischt, der technische Betrug wird zur globalen „Achilles-Ferse“ des VW-Konzerns. Mit milliardenschweren Konsequenzen.

„Der Abgasskandal von VW zeigt, wie Standardisierung die Wirkung von Fehlern gewaltig potenziert“, sagt Prof. Alfred Mack von der betriebswirtschaftlichen Fakultät der Hochschule Esslingen. „Heiß begehrt sind kostenwirksame Mengeneffekte, also Einsparungen bei großen Stückzahlen.“ Der vermeintliche Gewinn an Effizienz stelle sich aber als „Achilles-Ferse“ heraus. „Effizienz ist kein Maß dafür, ob wir das Richtige tun“, so Mack. „Sie bewertet nur, ob wir das, was wir tun, auch richtig machen.“

Fantasien von Omnipotenz bei Planbarkeit und Kontrolle würden nicht helfen, wenn eine Software millionenfach kopiert wird – „und sich Autos nur durch ihre Karosserie unterscheiden“, so Mack. So ist über Nacht ein ganzer Konzern bedroht, selbst seine Töchter geraten in Sippenhaft. Ingenieur Mack ist Experte auf diesem Gebiet, er hält unter anderem Vorlesungen zu den Themen „Produktionssysteme“ und „Automatisierungstechnik“.

Untergräbt Standardisierung die Überlebensfähigkeit im Wettbewerb? „Ja“, sagt Mack, „weil Unternehmen gewissermaßen ein Spiegelbild ihrer komplexen Umwelt sein sollten“. Nur komplexe interne Strukturen versetzen Unternehmen in die Lage, vernünftig auf komplexe äußere Herausforderungen zu reagieren. „Wie beim Auto“, meint der Esslinger Professor, „da wurde das Gas- und Bremspedal erfunden, weil auf der Straße eine digitale Fahrweise nicht funktioniert.“ Die würde ja nur aus Vollgas und Vollbremsung bestehen.

Gewinn optimieren, bis nichts mehr rauszupressen ist

Das klingt wie das Gegenteil von „Lean Management“, das Prozesse immer einfacher gestalten will. Ähnliche Ziele verfolgt auch VW mit seinem „Modularen Querbaukasten“. Doch das Konzept des „Lean Management“ wird auch kritisch gesehen, zum Beispiel vom ehemalige IBM-Technikvorstand Gunter Dueck: „'Lean Management' ist ein rein mathematisches Konzept. Das Unternehmen versucht kurzfristig, den Gewinn zu optimieren, bis nichts mehr rauszupressen ist.“ Dann würden die Manager noch eine Weile gegen die Mitarbeiter kämpfen, indem sie Überstunden verlangen.

Und das Ende vom Lied? „Alle Prozesse und Systeme erreichen ihre Verschleißgrenze. Ich spare den größten Geldbetrag, wenn ich an die mathematisch zulässige Grenze gehe“, so der ehemalige IBM-Vorstand, „in einem solchen Optimum werden bestimmte Ressourcen vollständig aufgebraucht, zum Beispiel die Nerven der Mitarbeiter.“

Die Mathematik entpuppt sich als Sackgasse, das sieht auch Mack so: „Wenn wir einen Mitarbeiter entlassen, zeigt sich das sofort durch geringere Personalkosten“. Doch die Lücke im Arbeitsprozess ließe sich nicht so leicht quantifizieren. Der Grund: Die Kennzahlen orientierte BWL reduziert die entscheidende Wirklichkeit auf rechnerische Größen. Aber die unternehmerische Lebensrealität weise eine weit größere Komplexität auf, als sie das Konzept des „Lean Management“ erfasst.

Konsequenz laut Mack: „Formal scheint in der reduzierten Kennzahlen-Welt alles okay zu sein. Das können wir aufrechterhalten, auch wenn sich die realen Verhältnisse längst stark verändert haben.“ Denn: Die Kontrollmechanismen erzeugen eine Realität, welche die Kontrollmechanismen bestätigt. Als Beispiel zitiert Mack den Wissenschaftler Paul Watzlawick: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“

„Warum stellen Unternehmen pro Abteilung nicht einen Mitarbeiter mehr ein? Könnten sie nicht so der krankmachenden Arbeitsverdichtung vorbeugen?“ Die Fragen lösten beredtes Schweigen unter den Experten aus, die in Darmstadt auf dem Podium saßen. Keiner wollte Stellung nehmen, und im Publikum wurde leise gekichert. Die Moderatorin nannte das einen „interessanten Impuls“ – und die Diskussion konnte sich wieder dem Segen durch Gesundheits-Apps zuwenden. Titel der Veranstaltung: „Corporate Health Congress“.

„Diese Apps sind Interventionen um die Leidensfähigkeit und Anpassung der Mitarbeiter zu trainieren“, sagt Prof. Alfred Mack, „und zwar durch Überprüfbarkeit aller Aktivitäten“. Sie seien ein praktisches Hilfsmittel zur Arbeitsverdichtung. – Arbeitsverdichtung? Erst werden die Menschen schneller krank, weil sie dem Druck einer digitalisierten Arbeitswelt nicht gewachsen sind. Denn ihre Arbeitsplätze werden immer stärker durch optimierte, „schlanke“ Prozesse beherrscht, um kurzfristig die Rentabilität der Unternehmen zu steigern („Lean Management“). Dann sollen dieselben Menschen die IT-Systeme des Betrieblichen Gesundheitsmanagements nutzen, um das alles auszuhalten!

Je mehr Gesundheits-Apps zum Einsatz kommen, desto höher wird auch die Rentabilität der Unternehmen, die sie auf einen wachsenden Markt werfen. Ein volkswirtschaftliches Paradoxon: Erst wird Geld verdient, weil Menschen krank werden. Dann wird Geld verdient, weil Menschen gesund erhalten werden – mit prinzipiell derselben Technologie, die sie vorher in die Psychiatrie gebracht hat. Wäre es nicht einfacher, in jeder Abteilung einen Mitarbeiter mehr zu beschäftigen?

Aus: Gerald Lembke, Ingo Leipner: „Zum Frühstück gibt´s Apps. Der tägliche Kampf mit der Digitalen Ambivalenz“, Springer 2014

Bedingungslos Kosten einzusparen, lautet ein Glaubenssatz der Kennzahlen orientierten BWL. Dadurch lösen sich Arbeitsplätze in Luft auf, während die Arbeitsmenge den überlebenden Mitarbeitern über den Kopf wächst. Stichwort: Arbeitsverdichtung! Doch die Kosten sinken, sinken, sinken. „Die übrigen Mitarbeiter ersticken in Arbeit, ganze Abteilungen werden ins Burnout getrieben“, kommentiert dieses häufige Phänomen Robert Berkemeyer vom Netzwerk culture²business, das sich für eine wertschätzende Unternehmenskultur in Deutschland einsetzt.

Und Mack sagt dazu: „Gerade bei der Analyse von Geschäftsprozessen wird oft der Fehler gemacht, die Komplexität der Wirklichkeit auszublenden.“ Der Mensch sei immer auch in seiner Emotionalität und sozialen Einbindung zu verstehen und nicht auf eine Kostenstelle zu reduzieren. Der VW-Skandal zeige deutlich: Bereits die unreflektierte Vereinfachung technischer Abläufe kann sich als Achilles-Ferse erweisen. „Noch schlimmere Konsequenzen drohen, sobald Mitarbeiter zwischen Effizienz-Räder geraten“, so Mack.

Übrigens: Achilles ist nicht allein mit seinem Schicksal. Da gab es noch Siegfried aus dem Nibelungen-Lied, der nicht genug Drachenblut in seiner Badewanne hatte...

Das Netzwerk culture2business setzt sich zum Ziel, gesellschaftlichen Wandel zu erkennen und in die Wirtschaft zu tragen. Die Partnerinnen und Partner wollen einen Wechsel gestalten, der zu einer zukunftsfähigen Kultur in Unternehmen führt. Die Stichworte lauten: Mehr Kooperation und weniger Konkurrenz. Mehr Gemeinwohl und weniger Egoismus. Mehr Ganzheitlichkeit und weniger Profitmaximierung.

Das Netzwerk culture²business unterstützt Unternehmen, die eine ganzheitlich-zukunftsorientierte Kultur aufbauen wollen, um im Wettbewerb durch engagierte Mitarbeiter zu bestehen. Daher vereint das Netzwerk Kompetenz aus unterschiedlichen Gebieten: Die Partnerinnen und Partner sind Unternehmensberater, Systemische Coaches, Trainer, Wissenschaftler, ein Journalist, ein IT-Spezialist und ein Experte für Bildung im Internet.

Ihr Netzwerk wurde inzwischen als Fachgruppe „Unternehmenskultur und Kommunikation“ in die „Offensive Mittelstand“ aufgenommen, die vom „Bundesministerium für Arbeit und Soziales“ gefördert wird. Das Netzwerk will für Unternehmen ein fundiertes Beratungs- und Informationsangebot entwickeln: Analysen, Beratungen, Webinare, Vorträge und Trainings. Kontakt: Netzwerk culture²business, Sabine Gilliar, Tel. 0157/797 090 21, E-Mail: [email protected]