«Zappel-Syndrom» «Zappel-Syndrom»: Experten streit über die richtige Behandlung
Frankfurt/dpa. - Ob der Philipp heute still, wohl bei Tische sitzen will?» Der Zappel-Philipp aus dem Bilderbuch «Struwwelpeter» will nicht. Oder kann er nicht? Über diese Frage streitet sich seit Jahren die Wissenschaft. Für die einen ist die Zappelei ein vererbter Defekt des Gehirns, den sie als Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bezeichnen und der dringend mit Psychopharmaka behandelt werden sollte. Andere bewerten ADHS als Zivilisationskrankheit, die weniger mit Medikamenten als mit Psychotherapie und veränderter Erziehung kuriert werden muss.
Bis vor einigen Jahren galt das Interesse der ADHS-Forscher vor allem dem Zappel-Philipp, der kaum eine Minute still sitzen kann. Inzwischen erstreckt sich das Spektrum auf fast alle «Struwwelpeter»- Figuren, die der Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann 1844 gezeichnet hat: den sozial gestörten Wüterich, das unbedachte Paulinchen und den verträumten Hans-Guck-in-die-Luft.
Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich nicht konzentrieren können, extrem unruhig sind und höchst impulsiv reagieren. Sie machen mit ihrem ungebändigten Bewegungsdrang oder ihrer träumerischen Abwesenheit den Eltern und Lehrern das Leben schwer. Schätzungen über die Zahl der betroffenen Kinder reichen von 2 bis zu 20 Prozent. Die Arbeitsgemeinschaft ADHS in Forchheim/Oberfranken geht von rund 500 000 Kindern zwischen 6 und 16 Jahren aus. Davon werde etwa jedes Zehnte medikamentös behandelt.
Der US-amerikanische Psychiatrie-Professor Russell Barkley gehört zu den prominenten Verfechtern des Psychopharmakons Ritalin. Seiner Einschätzung nach erhalten sie bislang nur die Hälfte der schwer Erkrankten. Schuld daran seien die Medien, die diese Krankheit verharmlosten, schreibt er in einer «internationalen Erklärung», die er mit 75 weiteren Wissenschaftlern Anfang 2002 veröffentlicht hat: «Dabei besteht kein Zweifel darüber, dass ADHS zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen bei vielen geistigen Fähigkeiten führt und damit den meisten Betroffenen deutlichen Schaden zufügt.» Als Beispiele nennt er unterer anderem Schulversagen, gesteigerte Drogen- und Kriminalitätsgefährdung.
Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Klaus Skrodzki, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte. Für ihn steht fest, dass die Krankheit vererbt wird: Stoffwechselstörungen im Gehirn führen zu fehlerhafter Informationsverarbeitung. Durch Erziehung könnten solche Anlagen nur geringfügig beeinflusst werden. Für die Behandlung setzt Skrodzki auf Psychopharmaka, die das Kind für mehrere Stunden beruhigen und ein konzentriertes Arbeiten ermöglichen. Nebenwirkungen und Abhängigkeiten sind nach seinem Wissen bislang nicht nachgewiesen worden. Allerdings lässt sich ADHS mit Ritalin auch nicht heilen.
Der Darmstädter Pädagogikprofessor Manfred Gerspach zweifelt diese Befunde an. Vor 25 Jahren sind deutschlandweit 400 Kinder wegen Hirnfunktionsstörungen mit Ritalin behandelt worden - heute liege die Zahl bei 20 000 bis 50 000. «Ich glaube nicht, dass wir es mit einer Epidemie zu tun haben. Dieses Phänomen ist Folge eines gesellschaftlichen Wandels.» Scheidungen und Doppelverdienertum führe zu einem «Aufmerksamkeitsdefizit» der Eltern gegenüber ihren Kindern. Hinzu kämen Leistungsdruck, mangelnde Bewegung und hoher Fernseh- und Computerkonsum.
Ein Psychopharmakon ist auch für den Familientherapeuten Wolfgang Bergmann aus Hannover das schlechteste Mittel zur Behandlung von ADHS. «Wir wollen den Kindern ein sicheres Identitätsgefühl geben. Mit Ritalin fühlen sie sich vier Stunden lang toll und danach wieder getrieben. Dieses ständige Pendeln verhindert die Stabilisierung.» In vielen Fällen fehle die Zeit für eine genaue Diagnose und deshalb werde vorschnell zu Medikamenten gegriffen. Seiner Ansicht nach sind sie jedoch nur bei sehr wenigen Kindern wirklich hilfreich.
Für Bergmann ist ADHS nur die Beschreibung eines Phänomens, das viele verschieden Ursachen hat - einige sind körperlich bedingt, die meisten jedoch durch gesellschaftliche Entwicklungen. Er kritisiert eine inkonsequente Erziehung und plädiert dafür, dass sich Väter stärker einschalten. «Bei 70 Prozent meiner Patienten führt ein veränderten Verhalten der Eltern und zum Teil auch Lehrer zu massiven Verbesserungen im Verhalten der Kinder.»
Die Betroffenen und ihre Eltern lässt dieser Streit weitgehend ratlos zurück. Für eine gründliche Diagnose des Kindes, die sich über ein halbes Jahr hinziehen kann, fehlen die Ärzte, denn die Masse der Verhaltensauffälligen ist zu groß. Ähnliches gilt für eine Familientherapie oder Erziehungshilfe. Oft bleibt dann nur der schnelle Griff zum Ritalin oder der weitere Kampf mit dem Zappel- Philipp: «Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.»