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Wenn Frauen sich zur Spätabtreibung entschließen

Von Funda Erler 24.11.2008, 15:18

Berlin/dpa. - Das Kinderzimmer wird schon Monate vor dem Geburtstermin eingerichtet, der Kinderwagen steht auch bereit. Viele Paare können die Geburt ihres Babys kaum erwarten.

Auf die Frage, ob sie lieber einen Jungen oder ein Mädchen hätten, geben sie meist die Antwort: «Egal, Hauptsache gesund.» Doch was ist, wenn Ärzte eine schwere Krankheit oder Behinderung des Kindes feststellen?

«Die Frauen erstarren, ihnen stockt der Atem», sagt die Frauenärztin Jette Brünig. «Dann weinen sie bitterlich.» Als Therapeutin im Gesundheitsamt Berlin-Charlottenburg betreut Brünig seit 25 Jahren Frauen, die behinderte Kinder erwarten. «Es ist mehr als eine Beratung, es ist eine Begleitung, eine Seelsorge im positivsten Sinne», sagt sie. «Die Frauen wissen nicht, was sie tun sollen. Es ist eine furchtbare Phase, von der sie denken, dass sie niemals enden wird.»

Erst vor wenigen Wochen half Brünig einer Schwangeren, «sich so zu entscheiden, dass sie damit leben kann». Das ungeborene Kind hatte eine seltene Fehlbildung der Nieren und der Blase - und deshalb keine Überlebenschancen. Sieben Wochen lang traf sich Brünig mit der Frau, sprach mit ihr, hörte ihr zu. Schließlich wurde das Baby in der 24. Schwangerschaftswoche abgetrieben.

Juristisch sind in Deutschland Spätabtreibungen nur möglich, wenn eine medizinische Indikation besteht, also eine Gefahr für die körperliche oder seelische Gesundheit der Mutter. Dann kann die Schwangerschaft theoretisch bis zum Entbindungstermin abgebrochen werden. Eine Abtreibung nur wegen einer Behinderung des Kindes ist seit 1995 verboten, als das Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB) neu geregelt wurde. Dennoch werden nach Angaben von Brünig weit mehr als 80 Prozent der Schwangerschaften abgebrochen, wenn Ärzte schwere Erkrankungen beim Kind - etwa das Down-Syndrom (Trisomie 21) - feststellen.

«Die heutigen medizinischen Möglichkeiten sind sowohl ein Segen als auch ein Fluch», sagt Familientherapeutin Maria Nuij-Brandt von der Berliner Beratungszentrale «Familie im Zentrum». Die Sozialpädagogin ist spezialisiert auf psychosoziale Beratung nach vorgeburtlichen Untersuchungen (Pränataldiagnostik). «Die Technik ermöglicht es, beispielsweise schwere Herzfehler rechtzeitig zu erkennen.» Dadurch überlebten viele Babys, die früher gestorben wären. Ebenso können unheilbare Krankheiten und Behinderungen entdeckt werden, bevor das Kind auf die Welt kommt. «Das führt zu einem Schock bei den Frauen. Familien drohen an den Belastungen kaputtzugehen.»

Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 229 Mal Schwangerschaften nach der 22. Woche abgebrochen - dann sind gesunde Babys in der Regel bereits alleine lebensfähig. Im Verhältnis zu insgesamt 116 871 Abtreibungen ist der Anteil mit 0,2 Prozent zwar verschwindend gering. Doch: «Je später die Abtreibung, desto schlimmer ist es für die Frauen, denn sie haben schon eine Beziehung zum Kind aufgebaut», sagt Brünig. Viele der Untersuchungen erfolgen aber erst nach den ersten zwölf Schwangerschaftswochen, in denen eine Abtreibung ohne Indikation noch möglich ist.

Wie eine Spätabtreibung nach der 22. Schwangerschaftswoche erfolgt, wissen die wenigsten. «Die Frauen müssen die Babys richtig gebären», erklärt Brünig. Sie bereitet Frauen auf diesen Schritt vor. Sie erklärt ihnen, dass das ungeborene Kind vor dem Auslösen der Wehen mit einer Injektion getötet wird. Sie hilft den Müttern, ihr totes Baby nach der Entbindung in den Arm zu nehmen, um sich zu verabschieden - zunächst unvorstellbar für die meisten Frauen. Und sie hilft ihnen zu trauern. «Schuldgefühle verhindern oft die Trauer. Die Frauen geben sich die Schuld am Tod des Kindes. Sie gehen durch die Hölle.»

Bei drei bis fünf Prozent aller Ungeborenen wird nach Angaben von Pränataldiagnostiker Adam Gasiorek-Wiens eine Fehlbildung festgestellt. Häufig seien die Paare aber nicht ausreichend auf diese Möglichkeit vorbereitet, sagt der in Berlin praktizierende Arzt. Er wünscht sich mehr frühzeitige Beratung. «Ärzte handeln häufig nach ihren eigenen Wertvorstellungen und genehmigen einen Abbruch, ohne dass die Frauen genügend Zeit bekommen, um alles zu verarbeiten», kritisiert Gasiorek-Wiens. Eine erzwungene Beratung vor der Spätabtreibung sei viel zu spät.