Teil 46: Traumatisierte Kinder Trauma First: Projekt hilft Kinder bei Trauma-Therapie

Halle (Saale) - Was muss in einer Familie vorgefallen sein, wenn das Jugendamt kurz davor steht, die Kinder da herauszunehmen? Dr. Sabine Ahrens-Eipper, die mit Katrin Nelius in Halle eine Gemeinschaftspraxis für Psychotherapie betreibt, erzählt, dass die beiden Jungen, um die es geht, in ihrem Leben schon viel Gewalt erlebt haben - körperliche wie psychische.
Entsprechend auffällig sei ihr Verhalten gewesen. Die Mutter, selbst schwer traumatisiert, hatte es nicht geschafft, die Kinder vor ihrem prügelnden Lebensgefährten zu beschützen. Sie trug keine Liebe in sich. Hatte selbst nie Zuneigung gespürt. „Die Frau konnte ihre Kinder nicht einmal streicheln“, sagt Sabine Ahrens-Eipper.
Psychotherapeutinnen aus Halle helfen Kindern im Projekt Trauma First
Die Familie galt als hoffnungsloser Fall. Jedoch nicht für die beiden Psychotherapeutinnen. Sie wurde in ihr Behandlungsprogramm „Trauma First“ aufgenommen, ein Programm, das Sabine Ahrens-Eipper und Katrin Nelius gemeinsam entwickelt haben.
Sie wenden dabei Methoden des Dresdener Psychotherapeuten Mervyn Schmucker an, haben diese gemeinsam mit ihm auf die Bedürfnisse von Kindern zugeschnitten.
„Es ist ein sehr intensives Programm, zu dem in einem Zeitraum von anderthalb Jahren die Arbeit in einer Kindergruppe, in einer Elterngruppe, Hausbesuche und auch Einzelgespräche gehören“, erklärt Sabine Ahrens-Eipper.
Alles entspreche den Idealvorstellungen einer Trauma-Therapie für Kinder und Jugendliche. Und sie räumt ein: „Im Rahmen einer Regelleistung wäre dies so nicht denkbar.“
Dass die Frauen ihr bundesweit einmaliges Projekt seit 2008 umsetzen können, verdanken sie einem speziellen Versorgungsvertrag, den sie mit der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt sowie mit der Techniker Krankenkasse geschlossen haben.
Das sei ein Glück. Die Nachfrage ist groß. Begonnen wurde mit der Betreuung von 25 Familien. Inzwischen sind es zwischen 40 und 45 Familien, die zusätzlich zu der normalen Niederlassung versorgt werden.
Lesen Sie hier die wichtigsten Fragen und Antworten zu dem Projekt "Trauma first"
Mit welchen seelischen Wunden kommen die Kinder und Jugendlichen in die Praxis?
„Es handelt sich um Kinder und Jugendliche mit Traumafolgestörungen nach sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt“, sagt Sabine Ahrens-Eipper. Patienten seien auch Unfallopfer, Kinder, die dabei waren, als ein Angehöriger plötzlich verstarb oder die gar einen Mord mitansehen mussten.
„Wir behandeln zudem Kinder, die nicht nur ein traumatisches Ereignis zu verarbeiten haben“, fügt die Psychotherapeutin hinzu. Es sei zu beobachten, dass ein Kind, welches körperlich misshandelt worden sei, auch anderen Gewaltformen ausgesetzt war. Sie verweist auf Studien, nach denen in Deutschland in jedem Geburtsjahrgang etwa 30 000 Kinder in Hochrisiko-Familien leben, Mädchen und Jungen, deren Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, die vor Gewalt schlecht geschützt sind.
Die zahlenmäßig größte Gruppe ihrer Patienten sind übrigens Grundschulkinder, gefolgt von den Zwei- bis Fünfjährigen.
Warum brauchen Kinder eine spezielle Trauma-Behandlung?
„Kinder, die ein traumatisches Erlebnis hatten, zeigen dieselben Symptome wie Erwachsene“, sagt Sabine Ahrens-Eipper. Sie zählt auf: Alpträume, Panik, sie sehen das Ereignis immer wieder vor ihren Augen, sie ziehen sich zurück. Und vor allem Jungen würden ein aggressives Verhalten an den Tag legen. „Hinzu komme aber, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden“, sagt die Therapeutin. Kinder, die schon einmal trocken waren, würden wieder einnässen. Motorische Fähigkeiten wie das Binden von Schürsenkeln gingen verloren. Manche könnten nicht mehr allein einschlafen oder nicht mehr allein bleiben. „Die traumatischen Erlebnisse führen dazu, dass sie entwicklungsmäßig eine Stufe zurückfallen und möglicherweise da steckenbleiben“, so die Therapeutin.
Auch in der Schule haben die Kinder oft Schwierigkeiten, weil sie sich nicht konzentrieren können, ein Verhalten an den Tag legen, das die Lehrer und Mitschüler nicht verstehen und nicht tolerieren. „Wenn durch so ein traumatisches Ereignis eine Schullaufbahn gestört wird, dann kann das Einfluss auf das ganze Leben haben“, betont Sabine Ahrens-Eipper.
Muss auch die Schule in die Therapie einbezogen werden?
„Wenn wir merken, dass es schwierig wird, dann führen wir auch mal Schulgespräche“, sagt Katrin Nelius. „Wir hoffen, unsere Patienten ein bisschen übersetzen zu können.“ Ihr Umfeld, so fügt Sabine Ahrens-Eipper hinzu, könne oft nicht verstehen, warum ein Kind beispielsweise ausraste, wenn ihm der Lehrer zu dicht auf die Pelle rücke. Das Kind fühle sich bedroht, es denke an die Situation zurück, in der es missbraucht oder geprügelt wurde. „Wir wollen vermitteln, dass es einen Grund gibt, warum das Kind sich so verhält. Und wir werben um einen Vorschuss an Vertrauen, um Wohlwollen, darum, an die Kinder zu glauben“, betont Sabine Ahrens-Eipper.
Gibt es Verständnis bei den Lehrern?
„Da wir sehr penetrant sind, stoßen wir irgendwann mal auf Verständnis“, sagt Katrin Nelius. „Wir kämpfen für unsere Patienten.“ Mitunter, so konstatiert sie, sei die Geduld der Lehrer aber auch erschöpft. Für das Kind sei dann ein Neuanfang in einer anderen Schule besser. Da gebe es eine enge Zusammenarbeit mit dem Schulamt. So ein Wechsel werde gut vorbereitet. Auf beiden Seiten. Das heißt, die neue Schule wird von den Therapeutinnen informiert. Und mit dem Kind wird in Rollenspielen geübt, wie es auf die neuen Klassenkameraden zugehen kann. „Ich finde es immer ganz toll, wenn sie dann erzählen, dass sie beliebt sind, Freunde gefunden haben und wieder gern zur Schule gehen“, sagt Katrin Nelius.
Wie sieht nun die eigentliche Trauma-Therapie aus?
Die Therapeutinnen gehen in drei Schritten vor. „Am Anfang steht die - altersgerechte - direkte Auseinandersetzung mit dem Erlebten“, sagt Sabine Ahrens-Eipper. Das Gehirn habe ja das, was passiert ist, nicht verarbeitet. Deshalb stiegen die Erinnerungen daran immer wieder auf. „Um die Verarbeitung aber zu ermöglichen, gehen wir in Zeitlupe und chronologisch alles durch.“ Was ist passiert? Wie warm war es, wie hat es gerochen... Das Problem bei Traumafolgestörungen sei nämlich, dass der Betroffene nicht spüre, dass das schreckliche Geschehen vorbei sei. Er habe immer das Gefühl, es kann jederzeit wiederkommen. „Es riecht so wie damals - und zack ist das Erlebte wieder da“, erklärt Sabine Ahrens-Eipper. Durch dieses intensive Durchgehen werde es aber zeitlich eingeordnet. Die Betroffenen spürten: Es ist vorbei.
„In einem zweiten Schritt geht es darum, den Täter zu entmachten und zu vertreiben“, erklärt die Therapeutin. Denn der beherrsche - obwohl körperlich schon lange nicht mehr anwesend - bis dahin immer noch das Leben seines Opfers. Das Kind könne ihm nun in der Fantasie alles, was es empfinde, an den Kopf werfen. Es könne auch alles, was es wolle, mit ihm anstellen. „Die Kleineren verzaubern den Täter oft. Jugendliche stellen sich häufiger eine direkte körperliche Auseinandersetzung mit ihm vor“, ergänzt Katrin Nelius. Die Frage, ob dann aus der Fantasie nicht eine gefährliche Realität werden könne, die verneint sie. Das Ganze geschehe auf der sogenannten inneren Bühne. Und da sei alles erlaubt.
Die Therapeutinnen verweisen darauf, dass durch diese Methode das Aggressionspotenzial sogar sinke. Die Kinder liefen nicht mehr mit dem Groll und mit der Erniedrigung herum. Sie könnten sich vor diesem Menschen wieder erheben.
In der dritten Phase kümmert sich der Patient dann um sein jüngeres „Ich“. Wenn derjenige mit sechs Jahren verprügelt wurde, dann gehe er zu dem Sechsjährigen und tröste ihn, spiele vielleicht mit ihm, sagt Sabine Ahrens-Eipper. „Das ist wichtig, weil gerade Jugendliche und junge Erwachsene nach traumatischen Erlebnissen einen Selbsthass entwickeln. Um wieder mit sich ins Reine zu kommen, ist dieser dritte Schritt, der sich auch auf der inneren Bühne vollzieht, notwendig.“
Wie wichtig ist es, die Familien einzubeziehen?
Das ist ganz wichtig, wie die Therapeutinnen betonen. Auch die Eltern seien oft traumatisiert. Und solange sie beeinträchtigt seien, könnten sie ihrem Kind keine Stütze sein. Zudem sei es für die Eltern nicht einfach, nach traumatischen Erlebnissen ihre Kinder wieder altersgemäße Sachen machen zu lassen - sie beispielsweise allein zur Schule gehen zu lassen. Oftmals würden Eltern ihren Kindern auch viel durchgehen lassen, sie etwa im elterlichen Bett schlafen lassen. „Wir sagen ihnen, dass sie auch dann gute Eltern sind, wenn sie zu einem konsequenten Erziehungsverhalten zurückkehren“, sagt Katrin Nelius.
Die beiden Frauen sind mit ihrem Programm sehr erfolgreich. „Da passieren Entwicklungen, die sind manchmal fast magisch“, sagt Sabine Ahrens-Eipper. Wie bei der anfangs erwähnten Familie. Da sei sie eines Tages in den Warteraum gekommen, wo die Mutter mit ihren beiden Söhnen saß. Sie hatte den einen rechts und den anderen links im Arm. Gemeinsam haben sie ein Buch angeschaut. Es gebe, so unterstreicht die Therapeutin, nichts Tolleres, als zu sehen, wie diese schon abgeschriebenen Kinder aufgeblüht seien, wie sie sich plötzlich fröhlich und aufgeweckt anderen Kindern zugewendet haben. „Das“, so unterstreicht sie, „sind Momente, weshalb wir diese Arbeit so lieben - bei allen Belastungen, die sie mit sich bringt.“ (mz)
