Teil 26: Sucht im Alter Teil 26: Sucht im Alter: Trost aus der Flasche

Halle (Saale) - Für ihr Leben als Rentner haben sich Anna und Otto Meier (Namen geändert) viel vorgenommen. Vor allem reisen wollen sie. Die Welt sehen. In fremde Kulturen eintauchen. Doch als die Zeit endlich gekommen ist, da wird Otto Meier krank. Erst ein Schlaganfall, dann eine schwere Darmerkrankung, danach ein Herzinfarkt... Aus der reiselustigen Rentnerin Anna Meier wird eine ans Haus gefesselte Pflegerin. Das verkraftet die heute 76-Jährige nicht. Sie greift zur Flasche. Trockener Rotwein spendet ihr Trost.
Eine Reihe von Faktoren
„Anfangs habe ich am Tag eine Flasche getrunken, später wurden es schon zwei“, erzählt sie. Wenn keiner im Haus ist, dann fängt sie schon früh an. An Tagen, an denen der Pflegedienst ihres Mannes kommt, reißt sie sich zusammen, wartet, bis der wieder durch die Tür ist. Erst danach geht es los. „Benebelt“, so sagt die Frau, „habe ich alles leichter genommen.“
Sie gehört zu den Menschen, die erst im Alter eine Sucht entwickeln. „Dies betrifft oft auch Menschen mit einer eigentlich stabilen Persönlichkeit, die auch familiär häufig nicht vorbelastet sind“, sagt Dr. Michael Brütting, Oberarzt an der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Ursache sind meist Schwierigkeiten, mit dem Altern fertig zu werden.“ Er nennt eine ganze Reihe von Faktoren, die dabei eine Rolle spielen können: der Partner stirbt, die Kinder ziehen aus, der Freundeskreis reduziert sich immer weiter, finanzielle Spielräume werden kleiner, was möglicherweise dazu führt, dass Hobbys aufgegeben werden müssen... Hinzu kommen körperliche Erkrankungen und damit einhergehende Schmerzen, häufig kommen Schlafstörungen dazu. Auch depressive Symptome können auftreten, sagt der Arzt. „Mangels anderer Möglichkeiten, sich Freude zu verschaffen, greifen die Betroffenen dann beispielsweise zum Alkohol“, fügt er hinzu. Hierdurch werde jedoch die soziale Isolation oft nur noch größer.
Mitunter wird Sucht nicht erkannt
Mitunter wird bei älteren Menschen die Sucht von der Umgebung oder vom Hausarzt gar nicht erkannt. Das könne häufig ebenfalls auf die mangelnde soziale Integration zurückgeführt werden, wie der Psychiater sagt. Es falle nicht so auf, wenn jemand zu Hause trinke. „Andererseits werden Symptome, die vom Substanzmittelkonsum herrühren - sprich: verwaschene Sprache, Schläfrigkeit, Gangunsicherheit - bei älteren Menschen häufiger körperlichen Erkrankungen zugeordnet“, erklärt Brütting. Wenn jemand oft stürze, dann werde das eben mit seiner körperlichen Schwäche erklärt.
Auch Anna Meier stürzt. Immer wieder. Sie trägt Platzwunden am Kopf davon. Häufig muss auch sie deswegen für ein paar Tage ins Krankenhaus. „Mein Kopf ist voller Narben“, sagt sie. Auf ihren Alkoholkonsum wird sie in der Klinik nie angesprochen. Wohl auch deshalb nicht, weil sie im Krankenhaus nie das Verlangen nach Alkohol verspürt, weil auch Entzugserscheinungen wie das Zittern der Hände nicht auftreten. Aber sobald sie wieder zu Hause ist, geht alles von vorn los. Sie muss sich beruhigen, trösten. Denn ihrem Mann geht es immer schlechter. Er liegt immer öfter im Krankenhaus.
Übermäßiger Alkoholkonsum für ältere Menschen gefährlicher
Ihrer Umgebung macht Anna Meier weis, dass die Stürze jeweils auf einen Zuckerschock zurückzuführen sind. Tatsächlich leidet sie an Diabetes - und auch an Bluthochdruck. Und die entsprechenden Werte geraten durch den maßlosen Alkoholkonsum mehrfach völlig durcheinander.
Genau das ist es, was den übermäßigen Alkoholkonsum für ältere Menschen noch gefährlicher macht als er ohnehin schon ist. Nicht nur dass Konzentration und Gedächtnis leiden, körperliche Folgeschäden entstehen. „Hinzu kommt, dass die Wirkung eingenommener Medikamente verändert werden kann“, sagt Brütting.
Die Einzige, die Anna Meier ins Gewissen redet, ist ihre Schwester. Die sorgt auch dafür, dass die Wohnung des Ehepaares nicht völlig verkommt. Und sie geht für die beiden einkaufen. „Im Haushalt habe ich nur noch das Allernötigste gemacht“, sagt Anna Meier. „Manchmal bin ich gar nicht aufgestanden. Ich habe mich auf meine Schwester verlassen.“ Die wiederum nimmt sich ein ums andere Mal vor, das Ganze nicht mehr zu unterstützen. „Aber dann hat Anna mich mit ihren treuen Augen angeschaut - und ich habe doch wieder geholfen“, sagt sie. „Vielleicht hätte ich konsequenter sein sollen.“
„Es können gravierende Entzugssymptome auftreten“
Aber was können Angehörige in so einer Situation machen? „Deren Möglichkeiten sind begrenzt“, meint Brütting. Es reiche nicht, beispielsweise den Schnaps wegzusperren. Wenn wirklich eine manifeste Abhängigkeitserkrankung bestehe und der Mensch in der Lage sei, sich die Substanzen zu beschaffen, dann werde ihm das auch gelingen. Sinnvoller sei es, dafür zu sorgen, dass Betroffene professioneller Hilfe zugeführt werden. Da sei dann der Hausarzt der erste Ansprechpartner.
Brütting macht darauf aufmerksam, dass es für jemanden, der über einen längeren Zeitraum kontinuierlich größere Mengen Alkohol getrunken hat, mitunter sogar gefährlich sei, abrupt damit aufzuhören. „Es können gravierende Entzugssymptome auftreten bis hin zum Alkoholentzugsdelir, was lebensgefährlich sein kann“, unterstreicht er. Deshalb sei fachliche Unterstützung notwendig.
Die sucht sich Anna Meier schließlich. Und zwar nach dem Tod ihres Mannes. Sie hat ihn geliebt. Und doch fällt eine Last von ihren Schultern. „Es war eine Erlösung - für beide Seiten“, sagt sie.
In der Psychiatrie macht sie eine dreiwöchige sogenannte Qualifizierte Entgiftungstherapie. Die enthält neben der körperlichen Entgiftung psycho- und sozialtherapeutische Unterstützung. In Einzel- und Gruppengesprächen erhalten die Teilnehmer Informationen über ihre Erkrankung, über Folgeerkrankungen und darüber, wie das Risiko eines Rückfalls vermindert werden kann. Gleichzeitig wird versucht, zugrundeliegende soziale Probleme anzugehen. So der Patient hierzu bereit ist, schließt sich daran eine meist dreimonatige Langzeittherapie in einer Reha-Einrichtung an. Und auch danach steht ein umfangreiches ambulantes Hilfesystem zur Verfügung.
Anna Meier fühlt sich nach der Therapie wesentlich wohler. Sie ist seitdem nicht mehr gestürzt. Appetit auf Alkohol verspürt sie nicht mehr. Auch bei Feiern in der Familie, wenn die anderen trinken, kommt sie nicht in Versuchung.
Suchttherapie lohnt auch im Alter noch
„Ziel der Behandlung von Alkoholkranken ist die Abstinenz“, sagt Brütting. Angehörige sollten den Betroffenen trotzdem weiter in alle familiären Aktivitäten einbeziehen. Aber ihn nicht dazu drängen, Alkohol zu trinken - frei nach dem Motto: Einmal ist keinmal.
Anna Meier ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich eine Suchttherapie auch im Alter noch lohnt. Die Auffassung, lasst den Älteren doch ihren Wein oder ihren Schnaps, es ist ihre einzige Freude, teilt Brütting nicht. „Wir wissen, dass das Risiko, aufgrund des Konsums gesundheitlichen Schaden zu nehmen, bei älteren Menschen deutlich erhöht ist. Zudem ist eine Suchterkrankung auch im Alter gut behandelbar“, sagt der Mediziner. „Ich glaube, man muss sich darüber im Klaren sein, dass vermehrter Substanzkonsum kein Zeichen von Wohlgefühl, sondern ein Ausdruck von Problemen ist“, fügt er hinzu. Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und soziale Integration nehmen aufgrund der Suchterkrankung ab. Dies führe zu zusätzlichen Problemen. Diesen Teufelskreis gelte es im Rahmen einer Therapie zu durchbrechen.
Bei Anna Meier scheint das gelungen zu sein. Und vielleicht kann sie jetzt ja die eine oder andere Reise noch antreten. (mz)