Psychologie Psychologie: Rückzug aus der Realität
Düsseldorf/Berlin/dpa. - Eines Morgens fand sie ihr Kind apathisch mitaufgerissenen Augen auf dem Bett sitzen. Der Oberkörper pendeltemechanisch hin und her, die Beine waren steif. Es begann einemehrjährige Leidenszeit, in der die junge Frau von der Überzeugungerfüllt war, sich umbringen zu müssen, um die Welt zu retten.«Paranoide Schizophrenie», so die Diagnose der Ärzte.
Der Begriff der Schizophrenie wurde 1911 von dem SchweizerPsychiater Eugen Bleuler geprägt. Er bezeichnet charakteristischeStörungen der Wahrnehmung, des Denkens und des Gefühlslebens.Betroffene scheinen gleichsam aus der Wirklichkeit auszusteigen. Beivoller Ausprägung der Krankheit begreifen sie sich nicht mehr alsautonome Persönlichkeiten. Sie glauben, dass fremde Mächte Einflussauf ihre Gefühle und Handlungen haben, dass umgekehrt aber auch sieselbst über außergewöhnliche Kräfte verfügen, etwa das Wettermanipulieren oder Kontakt zu Außerirdischen aufnehmen können. Häufigkommen eingebildete Sinneswahrnehmungen hinzu - der Erkrankte hörtStimmen.
Mit diesen Symptomen ist die Schizophrenie der Inbegriff dessen,was im Volksmund «verrückt» genannt wird. Dabei kommt sie vielhäufiger vor, als die meisten wissen: Ein Prozent der Bevölkerungerkrankt einmal im Leben an Schizophrenie. «Wenn ich diese Zahlnenne, wundert sich jeder», sagt Wolfgang Wölwer von der Klinik fürPsychiatrie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. DieFälle teilen sich in drei etwa gleich große Gruppen: Bei rund einemDrittel der Patienten bleibt es bei einem einmaligen Ereignis, einweiteres Drittel erfährt schizophrene Episoden, kann aberzwischendurch ein fast normales Leben führen.
Bei den übrigen nimmt die Krankheit einen chronischen Verlauf, deroft mit einem Aufenthalt in einem Heim oder einer therapeutischenWohngemeinschaft verbunden ist. An die Ausübung eines Berufes istdann nicht mehr zu denken.
Die meisten Patienten haben ihre Erkrankung aber dankpharmazeutischer und psychosozialer Therapien recht gut im Griff.Medikamente beeinträchtigen die Bewegungen heute deutlich weniger alsfrüher und führen auch nicht mehr zu einem starren Gesichtsausdruck.
Auf Grund welcher Ursachen Schizophrenie entsteht, ist bislangnicht klar. Wichtig ist in jedem Fall eine möglichst frühe Diagnose.Die macht Probleme, da die ersten Anzeichen auch mit normalenStimmungsschwankungen zusammenhängen können. «Betroffene leidenbeispielsweise unter Schlaf- und Konzentrationsstörungen», soPsychologe Wölwer. «Typisch ist auch, dass sie sich immer mehr ausdem sozialen Leben zurückziehen.»
Für die Angehörigen bedeutet die Krankheit eine enorme Belastung,Außenstehenden fällt ein normaler Umgang mit Erkrankten schwer:Schizophrene gelten als unberechenbar, gefährlich und geistigzurückgeblieben. «Dabei begehen sie nicht mehr Gewalttaten alsNormalbürger», sagt Professor Hans-Jürgen Möller von derLudwig-Maximilian-Universität München.
Die Tochter von Gabriele Segebart hat Glück gehabt. DieMedikamente halfen ihr. Derzeit absolviert die heute 23-Jährige eineAusbildung als Erzieherin und hat einen festen Freund, der vielVerständnis für sie aufbringt. Fremde würden ihr die Erkrankung nichtanmerken, weiß die Mutter: «Aber mir hat am Anfang der Behandlungeine Psychiaterin gesagt: 'So wie sie einmal war, bekommen sie ihreTochter nicht zurück.' Und so ist es auch.»