Neurologe erklärt Neurologe erklärt: Darum ist das Deuten der Symptome manchmal schwierig
Halle (Saale) - Eine Krankheit gilt als selten, wenn maximal fünf von 100 000 Menschen daran erkrankt sind. Über das Phänomen sprach Bärbel Böttcher mit Dr. Frank Hoffmann, Chefarzt der Neurologie am Krankenhaus Martha Maria in Halle-Dölau.
Herr Dr. Hoffmann, seltene Erkrankungen sind eines Ihrer Spezialgebiete. Warum beschäftigen Sie sich damit?
Dr. Frank Hoffmann: Zunächst einmal, weil seltene Erkrankungen sehr relevant sind, auch weil sie, obwohl es paradox klingen mag, ziemlich häufig vorkommen. Zwar kann die Zahl der Patienten mit einer einzelnen seltenen Erkrankung sehr gering sein, die Summe aller in Deutschland Betroffenen liegt aber immerhin zirka vier Millionen Menschen. Derzeit sind etwa 8 000 seltene Erkrankungen bekannt und jährlich kommen zirka 250 neue dazu. Bei 6 000 von ihnen ist das Nervensystem beteiligt. Auch wenn das nicht ausschließlich neurologische Erkrankungen sind, heißt das, Neurologen kommen damit oft in Berührung. Außerdem sind wir ein zertifiziertes Zentrum für Multiple Sklerose. Sie kann mit einer Reihe dieser seltenen Erkrankungen verwechselt werden. Um das auszuschließen schauen wir genau, ob das, was wie eine Multiple Sklerose aussieht, auch eine ist. So kommen wir - wie in dem geschilderten Fall - selteneren Erkrankungen auf die Spur.
Und können Sie auch allen Patienten so gut helfen?
Nicht allen, aber es werden immer mehr. Früher hieß es, dass der Neurologe zwar herausfindet, wo eine Störung liegt, er dem Patienten aber nicht helfen kann, weil ihm die Therapien fehlen. Das hat sich in den vergangenen 30 Jahren grundlegend geändert. Immer mehr dieser Krankheiten sind heute immer besser behandelbar - durch Immun-, Enzymersatz- oder Gentherapie. Aber selbst wenn noch keine gezielte Therapie möglich ist, ist es für die Patienten häufig schon eine ungeheure Entlastung endlich zu erfahren, dass sie tatsächlich eine Krankheit haben und ihre Leiden nicht eingebildet sind. Noch besser: Die Krankheit hat einen Namen und sie sind nicht allein mit dem Problem. Sie können nun auch bei Behörden, etwa der Rentenversicherung, oder ihrem Arbeitgeber gegenüber ganz anders auftreten.
Die Patienten werden oft verkannt.
Ja, sie werden häufig als Angstkranke oder Hypochonder eingestuft. Ihnen wird gesagt, dass ihre Bewegungsstörung, ihre Sturzneigung oder ihre Schmerzen keine körperlichen Ursachen haben können. Schließlich seien sie von Kopf bis Fuß untersucht worden. Oft werden die Patienten dann zum Psychotherapeuten geschickt. Häufig sind sie inzwischen sogar tatsächlich psychisch angeschlagen, zweifeln an sich selbst. Mitunter ist es auch so, dass die Ärzte etwas finden, dem Patienten aber eine Krankheit zuordnen, die er gar nicht hat. So wird eben bei einer entzündlichen Erkrankung des Zentralen Nervensystems (ZNS) oft schnell auf Multiple Sklerose geschlossen. Aber es gibt nicht nur diese eine entzündliche ZNS-Erkrankung.
Ist es also ein Glücksfall, wenn der Betroffene beim richtigen Arzt landet?
Ich sage mal so: Es ist nicht selbstverständlich, dass entsprechende Untersuchungen durchgeführt werden. Zum einen müssen Ärzte erst einmal in diese Richtung denken. Zum anderen ist das leider mit viel Aufwand und hohen Kosten verbunden und entspricht ein bisschen der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.
Selbst beim richtigen Arzt dauert es oft lange, bis die Diagnose feststeht. Woran liegt das?
Das liegt daran, dass aus Gründen der Praktikabilität und Wirtschaftlichkeit die Diagnostik stufenweise erfolgt. Wir suchen erst einmal nach dem Häufigen. Wenn wir da keinen Treffer landen, erweitern wir die Suche. Sofort alle Untersuchungen vorzunehmen, die möglich sind, das würde zum einen den Patienten und zum anderen das Budget der Klinik extrem belasten.
Wichtig ist, dass der Patient bei der Stange bleibt, also jeweils die Ergebnisse der Untersuchungen abwartet und mit dem Arzt, der sie veranlasst hat, bespricht, ob der Grund für die Beschwerden gefunden wurde oder eine weitere diagnostische Runde gedreht werden muss. Das erfordert schon ein gewisses Durchhaltevermögen. Auch ich habe Patienten, bei denen wir die entscheidende Spur noch nicht gefunden haben. Was auch manchmal am Erscheinungsbild der Krankheit liegt.
Das heißt?
Krankheiten halten sich leider nicht immer an das Lehrbuch. Da ist zum Beispiel schön beschrieben, dass Parkinson am Zittern zu erkennen ist. Aber es gibt reihenweise Parkinson-Patienten, die nicht zittern. Kurzum: Das Erscheinungsbild einer Erkrankung kann von Mensch zu Mensch und von Zeitpunkt zu Zeitpunkt sehr unterschiedlich sein. Und so ist es oft ein langer Weg zur Diagnose. (mz)