Leben nach dem Schlaganfall Nach Schlaganfällen: Hallescher Schriftsteller Konrad Potthoff kämpft sich zurück ins Leben

Halle (Saale) - Wäre mein Kopf so klar wie vor den Schlaganfällen, ich würde dafür gern auf einem Fuß lahmen und den Stock nehmen“, sagt Konrad Potthoff. Das erste Mal trifft es den halleschen Schriftsteller am 25. März 2017. Auf der Leipziger Buchmesse. Dort will er seinen neuen Roman vorstellen.
„Gottfried schwängert den Tod“ lautet der Titel. Es ist eine Schelmengeschichte, die viel über den Verfasser selbst erzählt. Doch der bringt an diesem Abend trotz aller Bemühungen kein Wort heraus. Einige Gäste der Veranstaltung deuten sein hilfloses Schweigen richtig. Sie erkennen: Der Mann braucht medizinische Hilfe.
Nach zwei Schlaganfällen: Hundedame Lilli hilft
Ein herbeigerufener Rettungswagen ist rasch zur Stelle. Kurze Zeit später liegt Konrad Potthoff auf der Intensivstation der Leipziger Universitätsklinik. Dort erleidet er zwei Tage später einen weiteren Schlaganfall.
Der Hallenser kommt jedoch relativ schnell wieder auf die Beine. Anfangs dank einer vierwöchigen Reha in Bad Liebenstein. Danach vor allem dank Lilli. Die Hundedame, die während Klinik- und Reha-Aufenthalt bei Freunden untergebracht ist, freut sich, wieder bei ihrem Herrschen zu leben. Und fordert es heraus. „Drei- bis viermal am Tag muss ich mit Lilli ein paar Runden drehen“, erzählt Konrad Potthoff, der seit vielen Jahren alleine lebt.
Sie begleitet ihn auch zum Einkaufen oder zur Physiotherapie. Und legt dabei ein ordentliches Tempo vor. Schnüffelt hier und da, zieht ihr Herrchen in die eine oder andere Richtung. So mancher Weg verlängert sich dadurch. „In dem ersten halben Jahr nach dem Schlaganfall bin ich jeden Tag zehn bis 15 Kilometer zu Fuß gegangen“, resümiert der heute 68-Jährige. „In dieser Zeit ist die Beweglichkeit zurückgekommen. Lilli war meine Lebensretterin.“
Trauerredner Potthoff hat plötzlich Lücken im Gedächtnis
Konrad Potthoff kennt viele Schlaganfall-Schicksale. Er ist ein gefragter Trauerredner. Für etwa 4.000 Menschen hat er in den vergangenen 20 Jahren die letzte Würdigung verfasst. Nicht wenige der zu Betrauernden seien an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben. In Gesprächen mit Hinterbliebenen habe er oft den Eindruck gewonnen, dass vor allem betroffene Männer nach der Krankheit „einen relativ geringen Ehrgeiz gezeigt haben, etwas in ihrem Leben zu ändern, dass sie es unter Umständen sogar schön fanden, den ganzen Tag umsorgt zu werden“.
Doch der körperliche Zustand ist nur die eine Seite. Der geistige die andere. Wer an einen Schlaganfall denke, der denke an einen gelähmten Arm, ein gelähmtes Bein oder einen schiefen Mund. „Was total übersehen wird, ist der gewaltige Schaden, der im Kopf angerichtet wird“, betont Konrad Potthoff. Er fühlt sich unmittelbar nach dem Ereignis auf einen Zustand zurückgeworfen, der ihn an eine Demenz erinnert. Sein Gedächtnis weist große Lücken auf, was eine häufige Folge der Krankheit ist, die auch Hirninfarkt genannt wird.
Konrad Potthoff: „Es war eine Riesenkraftanstrengung“
Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, gespeichertes Wissen abzurufen. „Vor dem Schlaganfall hätte ich die Lebensphilosophie von 50 Philosophen runterbeten können. Oder die Kaskaden innerhalb biochemischer Vorgänge. Oder die Zerfallsgleichung von Nitroglyzerin“, betont er. Schließlich habe er das alles einmal studiert. „Doch plötzlich war da nichts mehr.“ Und bis heute fehle eine Menge.
Konrad Potthoff versucht, das zu kaschieren. „Immer wenn ich im Gespräch mit jemandem das Gefühl hatte, ich nähere mich einem Begriff, auf den ich aber nicht komme, dann habe ich versucht, Synonyme zu finden, um den Begriff zu umschiffen und irgendwie weiterzureden“, erklärt er. „Es ging. Aber es war eine Riesenkraftanstrengung.“
Die Suche nach Fetzen der Erinnerung
Der Zustand bessert sich langsam. Parallelen zieht der Autor zum eingestürzten Kölner Stadtarchiv. „Ich muss in den Trümmern meines Gehirns nach Fetzen der Erinnerung suchen. Ich muss sozusagen neue Regale bauen und alle diese Fetzen, die ich heraushole, wieder zusammensetzen, ordnen, ablagern und neue Wege dorthin finden“, sagt er.
Konrad Potthoff nutzt die langen Spaziergänge mit Lilli, um das alte Wissen aus seinem Gedächtnis zu graben. Anfangs sind es oft ganz alltägliche Sachen, über die er stolpert. So gerät er in Panik, als sein Vermieter ankündigt, die Mischbatterien auszuwechseln. Was zum Teufel sind Mischbatterien, denkt er. Die Erinnerung kommt zurück - und mit ihr gleich eine Wendegeschichte. Vom Geld, das er für seine erste Lesung gleich nach dem Mauerfall im Westen erhält, kauft der Schriftsteller was? Eine Mischbatterie. Und muss dafür fast das gesamte Honorar hinblättern.
Sein großes Ziel ist es von Anfang an, möglichst schnell an einen Punkt zu gelangen, an dem er, so wie vor dem Schlaganfall, am Leben teilnimmt. Geduld ist dabei nicht seine Stärke. Schon Ende des Jahres 2017 mutet sich Konrad Potthoff eine erste Lesung in Merseburg zu. 100 Menschen hören ihm zu. Da der Schlaganfall seine Augen in Mitleidenschaft gezogen hat, kommt das Lesen etwas kurz. „Ich habe mehr aus meinem bewegten Leben erzählt“, sagt er. Doch das Publikum ist zufrieden.
In Sterbende hineinversetzten: Eine neue Dimension
Bald darauf hält der Autor auch wieder Trauerreden. Er sei schon immer ein Mensch gewesen, der sich gut in die Angehörigen Verstorbener hineinversetzen kann, sagt er von sich. „Doch seit dem Schlaganfall kommt noch eine Dimension hinzu.“ Er habe jetzt auch eine genauere Vorstellung davon wie es Menschen geht, die im Sterben liegen. „Dass es möglich ist, sich in Sterbende hineinzuversetzen, zu verstehen, was sie bei dieser Geschichte auszustehen haben, dass weiß ich erst, seit ich selbst dem Tod von der Schippe gesprungen bin“, unterstreicht er.
Zwar geben ihm die Trauerreden das Gefühl, gebraucht zu werden. Dennoch durchlebt Konrad Potthoff im Frühjahr 2018 eine schwere Krise. Es geht im zweiten Jahr nach dem Schlaganfall, nicht mehr ganz so schnell bergauf. Auch heute noch fällt es dem Schriftsteller schwer, zu schreiben. Zwar nutzt er am Computer ein sprachgesteuertes Schreibprogramm, braucht aber dennoch für seine Trauerreden sehr viel Zeit.
Mail von unbekannten Berliner Arzt macht Mut
„Da auch die Augen nicht sonderlich in Ordnung sind, kostet es enorme Kraft, die Texte noch einmal durchzulesen“, erzählt er. Überhaupt strengt ihn das Lesen sehr an. Worunter der Bücherfreund leidet. „Ich lese meistens Bücher, die ich aus anderen Zeiten fast auswendig kenne, wo ich weiß, wie es weitergeht, wenn die Augen nicht mehr wollen“, sagt er. Es sind seine Lieblingsbücher wie Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“.
Die Situation setzt Konrad Potthoff enorm zu. Doch just in dem Moment, als es ihm am schlechtesten geht, erhält er eine Mail von einem ihm bis dahin unbekannten Berliner Arzt. Der schreibt, wie sehr er die Wilhelmine-Geschichten, das sind seine Kinderbücher, schätzt und dass das zu DDR-Zeiten erschienene Buch von Konrad Potthoff „Die endlose Straße: Gespräche über Leben und Sterben“ ausschlaggebend für seine Berufswahl gewesen sei. „Da hatte ich das Gefühl, es bleibt doch etwas von mir“, sagt er. „Es war ein gutes Gefühl, das mir durch diese schwierige Situation geholfen hat.“
Kampf um eine Reha-Kur bisher erfolglos
Inzwischen macht der Schriftsteller wieder Pläne. „Ich habe den Traum, mir alle 4.000 Grabreden noch einmal vorzunehmen, die Geschichten der Menschen literarisch zu verarbeiten“, sagt er. Da gebe es ungeheuer viel zu erzählen. „Ob ich wirklich dazu in der Lage bin, das weiß ich nicht. Aber es ist mein Ehrgeiz, dorthin zu kommen“, unterstreicht er. Nicht zuletzt deshalb kämpft er mit seiner Krankenkasse um die Genehmigung einer weiteren Reha-Kur. Bisher erfolglos.
Ob er angesichts aller Probleme jemals mit seinem Schicksal gehadert hat? „Nein“, sagt Konrad Potthoff bestimmt. „Ich habe mir immer gesagt: Es hätte auch tödlich enden können, du hattest ein tolles und wahnsinnig interessantes Leben.“
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