Teil 25: Interview zur Sucht MZ-Gesundheitsserie Teil 25: Interview zur Tabak- und Alkoholsucht in Sachsen-Anhalt

Wie süchtig ist Sachsen-Anhalt? In den Statistiken, die über den Konsum legaler Suchtmittel wie Alkohol und Tabak Auskunft geben, ist das Land unter den traurigen Spitzenreitern. Aber wie sind diese Zahlen zu bewerten? Bärbel Böttcher sprach darüber mit Helga Meeßen-Hühne, Leiterin der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt. Sie steht außerdem dem Arbeitskreis „Legale Suchtmittel“ bei der Landesvereinigung für Gesundheit vor.
Frau Meeßen-Hühne, die Senkung des Anteils an Rauchern und der alkoholbedingten Gesundheitsschäden auf Bundesdurchschnitt ist ein Gesundheitsziel Sachsen-Anhalts. Wie kommen wir da voran?
Helga Meeßen-Hühne: Langsam, aber wir kommen voran. Es nehmen mehr Menschen als früher Angebote der Sucht-Rehabilitation an, es landen weniger Jugendliche nach Trinkunfällen im Krankenhaus, wir haben auch sinkende Quoten bei jugendlichen Rauchern. Da wir aber von einem sehr hohen Niveau aus gestartet sind, belegen wir in den entsprechenden Statistiken immer noch vordere Plätze.
Warum geht es so langsam?
Meeßen-Hühne: Das liegt daran, dass die Bevölkerung Sachsen-Anhalts einen hohen Altersdurchschnitt aufweist. Die älteren Menschen haben, was Alkohol und Tabak angeht, ein gefestigtes Konsumverhalten. Es wird hierzulande traditionell viel getrunken und geraucht. Das prägt natürlich auch die jungen Leute. Wenn es in meiner Umgebung normal ist, dass sich alle nach Feierabend mit Bier entspannen, dann ist es schwer, andere Gewohnheiten zu entwickeln. Das gilt für das Rauchen ganz genauso. Umso wichtiger sind Präventionsbemühungen bei Kindern und Jugendlichen.
Ältere Menschen werden jetzt aufbegehren und sagen, wir sind doch kein Land der Alkoholiker.
Meeßen-Hühne: Gerade beim Alkohol gibt es ein großes Missverständnis. Wenn Menschen darauf angesprochen werden, dass ihr Alkoholkonsum möglicherweise zu hoch ist, kommt oft die empörte Zurückweisung: Ich bin doch nicht suchtkrank. Es kann sein, dass das stimmt. Aber Alkohol ist auch für jemanden gesundheitsschädlich, der nicht suchtkrank ist. Jeden Abend ein Glas Wein ist für eine Frau zu viel, jeden Abend eine Flasche Bier ist für einen Mann zu viel.
Pro Woche sind zwei, drei trinkfreie Tage angesagt. Denn Alkohol ist ein Zellgift und erhöht massiv das Risiko unter anderem für Krebs- und Herz-Kreislauferkrankungen. Nach einer aktuellen Studie aus Neuseeland begünstigt Alkohol Krebs nicht nur, sondern ist die Ursache für sieben Tumorarten. Die niedrigen Trinkmengen werden oft nicht ernst genommen, weil sie mit der falschen Botschaft verknüpft werden. Es geht an dieser Stelle nicht um Alkoholismus.
Alkohol ist ständig verfügbar - trotz Jugendschutzgesetz
Meinen Sie nicht, dass jeder im seinem tiefsten Innern weiß, dass Alkohol ungesund ist?
Meeßen-Hühne: Sicher. Aber gewohnheitsmäßige Vieltrinker sagen sich, das machen andere auch. Der Effekt von hohem Alkoholkonsum in der Bevölkerung ist doch der, dass sich der Trinker im Normalen wähnt. Und dann muss er ja nichts an seinem Verhalten ändern. Und deshalb ist die hohe Alkoholtrinkrate, die wir übrigens in allen neuen Ländern haben, eine Herausforderung bei den Gesundheitszielen. Wir müssen neue Normalitäten schaffen - vorzugsweise bei Kindern und Jugendlichen.
Und wie geht das?
Meeßen-Hühne: Noch immer viel zu halbherzig. Prävention hat zwei Seiten. Da ist zum einen die Verhältnisprävention. Die Verhältnisse für jemanden, der beispielsweise Alkohol trinken möchte, sind bei uns nahezu ideal. Bier, Wein und Schnaps sind immer und überall zu haben. Und im Vergleich zu anderen EU-Ländern sind wir ein Billig-Alkohol-Land. Der Zusammenhang zwischen Preis und Konsum erschließt sich jedem normalen Menschen. Warum eigentlich nicht uns? Weil es eine starke Alkohol-Lobby gibt.
Aber Kinder und Jugendliche dürften doch nicht so einfach an Alkohol herankommen. Immerhin gibt es das Jugendschutzgesetz.
Meeßen-Hühne: Unser Jugendschutzgesetz hat sich in Bezug auf Alkohol, man sollte es nicht glauben, seit 60 Jahren nicht verändert. Sogenannter weicher Alkohol - Bier und Wein - darf ab 16 gekauft werden, härtere Sachen erst ab 18. Testkäufe, bei denen Jugendliche unter 18 Schnaps in den Einkaufskorb packen, zeigen aber, dass sie noch zu oft problemlos damit durch die Kasse kommen. Jugendlichen Alkohol zu verkaufen, den sie noch nicht trinken dürfen, gilt immer noch als Kavaliersdelikt. Es gibt Kassensysteme, die piepen, wenn Alkohol über den Scanner geht. Eigentlich müsste bei Jugendlichen dann nach dem Ausweis gefragt werden...
Was kann gegen die ständige Verfügbarkeit von Alkohol getan werden?
Meeßen-Hühne: Das macht uns Baden-Württemberg vor. Dort dürfen seit dem 1. März 2010 in Ladengeschäften aller Art zwischen 22.00 und 5.00 Uhr keine alkoholischen Getränke mehr verkauft werden. Die Auswertung nach fünf Jahren hat gezeigt, dass das positive Effekte hat - vor allem in der Altersgruppe der 15- bis 25-jährigen - genau in der Zielgruppe, die man erreichen will. Alkoholexzesse haben abgenommen, weil irgendwann der Nachschub fehlt.
Unsere Arbeitsgruppe will prüfen, ob das in Sachsen-Anhalt umsetzbar ist. Leider stellt die neue Landesregierung Baden-Württembergs das Verbot jetzt in Frage. Kommunen geben sich überall Mühe, alkoholbedingte Randale einzuschränken: Vor ein paar Tagen hat zum Beispiel die Stadt Herne in Nordrhein-Westfalen ein Alkoholverbot in der Öffentlichkeit beschlossen.
Kinder und Jugendliche zeitig aufklären
Was ist nun die zweite Säule der Prävention?
Meeßen-Hühne: Das ist die Verhaltensprävention. Also, wie schaffe ich es, dass Kinder und Jugendliche sich gesundheitsbewusst verhalten?
Und wie ist das zu schaffen?
Meeßen-Hühne: Indem man sie altersgerecht ehrlich informiert und zum Nachdenken bringt. Dazu gibt es gute Konzepte, auch in Sachsen-Anhalt. Ein Beispiel ist das Projekt „Auf dem Weg zur rauchfreien Schule“, an dem sich in Sachsen-Anhalt etwa 60 weiterführende Schulen beteiligt haben. Und die hatten echte Probleme. Es gab Rauchquoten von bis zu 45 Prozent. Die Schulen haben sich Regeln gegeben. Das heißt, es wurde ein Rauchverbot erlassen und gleichzeitig überlegt, wie das zu kontrollieren ist und mit welchen Sanktionen jemand rechnen muss, der rauchend erwischt wird.
Begleitet wird das von Aktionen, in denen sich die Schüler altersgerecht mit dem Rauchen auseinandersetzen. Außerdem wurden die Nichtraucher gestärkt. Für sie wurden beispielsweise schöne Sitzecken mit Spielen oder Ähnliches geschaffen. Auf jeden Fall wurde etwas dafür getan, dass das Nichtrauchen attraktiver ist als das Rauchen. Auch die Teilnahme am Nichtraucherschulwettbewerb „Be Smart - Don’t Start“ hilft.
Und das funktioniert?
Meeßen-Hühne: Es geht ja gar nicht darum, dass von den Schülern keiner mehr raucht. Das ist illusorisch. Es geht darum, das sichtbare Rauchen zu verdrängen, darum, dass das Nichtrauchen zur Normalität wird. Denn wie gesagt, Normalität prägt. Und das ist gut gelungen. Übrigens - ein Problem sind dabei rauchende Lehrer und Hausmeister. Deshalb ist es wichtig, sie auf diesem Weg mitzunehmen, genauso wie auch die Eltern.
Im Jahr 2013 rauchten in Deutschland etwa 25 Prozent der Bevölkerung im Alter von 18 Jahren und älter - rund 30 Prozent der Männer und etwa 20 Prozent der Frauen. Das geht aus dem „Tabakatlas Deutschland 2015“ hervor, der vom Deutschen Krebsforschungszentrum herausgegeben wird. In Sachsen-Anhalt rauchten danach 34 Prozent der Männer. Nur Mecklenburg-Vorpommern und Berlin hatten höhere Werte. Bei den Frauen waren es 22,6 Prozent. Hier lag die Rate in Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen höher.
Im Alter von 15 bis 24 Jahren rauchten laut Tabakatlas 2013 knapp 26 Prozent der Jungen und jungen Männer und 19 Prozent der Mädchen und jungen Frauen.
Sachsen-Anhalt erreichte in dieser Altersgruppe jeweils die höchsten Werte mit 36,4 Prozent bei den Jungen und jungen Männern beziehungsweise 30,3 Prozent bei den Mädchen und jungen Frauen.
Alkoholbedingte Krankenhauseinweisungen gab es nach Angaben des Statistischen Landesamtes Sachsen in Deutschland 2014 insgesamt 395.788. In Sachsen-Anhalt waren des 13.486. Nicht in absoluten Zahlen gerechnet, sondern je 100.000 Einwohner, gab es nur in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern mehr.
Bei den Sterbefällen an alkoholbedingten Erkrankungen waren es deutschlandweit 14.973, davon 881 in Sachsen-Anhalt. Pro 100.000 Einwohner gerechnet ist Sachsen-Anhalt trauriger Spitzenreiter. Zu etwa drei Vierteln betrifft es Männer.
Nun dürfen seit 2007 Zigaretten ja erst an Jugendliche ab 18 Jahre verkauft werden.
Meeßen-Hühne: Ja, da hat sich eine Menge getan. Aber es gibt viele Wege, um an Zigaretten zu kommen. Wichtig ist, das Einstiegsalter beim Rauchen hinauszuschieben.
Wie sieht es da jetzt aus?
Meeßen-Hühne: Nun, die jüngsten Untersuchungen von Sechstklässlern in Sachsen-Anhalt, also etwa Zwölfjährigen, besagen, dass 18,3 Prozent von ihnen schon einmal geraucht haben. Im Bundesdurchschnitt sind es nur 7,1 Prozent. Da fragt man sich schon, wer das duldet. Aus Grundschulen gibt es Berichte, dass Eltern ihrem Kind zum Nikolaustag schon mal eine Schachtel Zigaretten in den Schuh stecken. Ich finde ja, wir müssten soweit kommen, dass Eltern wenigstens ihren Kindern ermöglichen, rauchfrei zu bleiben.
Werbung und Nichtraucherschutz
Welche Rolle spielt die Werbung?
Meeßen-Hühne: Werbung wirkt. Und zwar hauptsächlich bei jungen Leuten. Markenbindung setzt früh ein. Die Konzerne wissen, sie müssen früh an die Menschen ran. Das gilt für Alkohol und das gilt für Tabak. Und sie machen das professionell mit sehr viel Geld. Übrigens - Deutschland ist neben Bulgarien das einzige Land in Europa, das noch Tabakaußenwerbung gestattet.
Würden Sie sich da mehr Beschränkungen wünschen?
Meeßen-Hühne: Unbedingt. Die Restriktionen bei Tabak- und Alkoholwerbung kommen so langsam von der Stelle, weil die Konzerne da Einfluss nehmen. Das ist vielfach nachgewiesen worden. Und natürlich schielt der Finanzminister auf die Steuereinnahmen - was sehr kurzsichtig ist.
Immerhin gibt es jetzt die Ekelbilder auf den Zigarettenschachteln.
Meeßen-Hühne: Die habe ich zunächst skeptisch gesehen. Aber sie wirken wirklich - vor allem bei jungen Leuten. Das haben entsprechende Untersuchungen gezeigt. Nicht nur, weil sie die Bilder abstoßend finden, sondern weil sie unter Umständen in ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis jemanden kennen, der an solch einer Krankheit leidet. Und das schreckt sie ab. Erwachsene lehnen die Bilder meist ab oder finden sie verlogen, weil es nichts Vergleichbares beim Alkohol oder bei zuckerhaltigen Lebensmitteln gibt.
Ist das Nichtraucherschutzgesetz Sachsen-Anhalts zu lasch?
Meeßen-Hühne: Nein. Mich stört nur ein Punkt, und zwar, dass an Berufsschulen Raucherinseln zugelassen wurden. Es gibt immer weniger rauchende Kinder und Jugendliche an den Schulen. Und was passiert, wenn sie an die Berufsschule kommen? Da werden sie mit der Nase darauf gestoßen. Jugendliche hätten an dieser Stelle noch ein wenig mehr Schutz verdient.
Unterm Strich: Wird für Prävention genügend getan?
Meeßen-Hühne: Für Prävention wird zu wenig getan. Dabei gibt es gute Konzepte für fast alle Lebenslagen. Aber es gibt zu wenig Menschen, die das in der Praxis umsetzen können. Dafür muss man ausgebildet sein. Wir haben in Sachsen-Anhalt in lediglich sieben Landkreisen und in der kreisfreien Stadt Magdeburg Fachkräfte für Suchtprävention - und zwar insgesamt neun.
Nebenbei: In Halle gibt es keine. Dort, wo es eine solche Fachkraft gibt, hat die Suchtprävention nachgewiesenermaßen eine völlig andere Qualität. Wenn es im gesellschaftlichen Interesse ist, vernünftig konsumierende Jugendliche zu haben, dann müssen wir endlich etwas dafür tun. (mz)