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Innenohrprothesen für taube Menschen

Von Ulrike von Leszczynski 20.03.2009, 10:38

Berlin/Neuruppin/dpa. - Wenn Peggy Rußat ausgeht, könnten Uneingeweihte sie für einen Bluetooth-Fan halten - oder gleich für eine Außerirdische. Am Hinterkopf der Brandenburgerin mit Igelhaarschnitt leuchten zwei knallrote Spulen mit glitzernden Strass-Steinchen.

Wie Antennenkabel führen rote Drähte in ihre Ohren. Sohn Christoph, 12 Jahre alt, trägt solche Spulen in grau. Die rätselhaften Geräte sind keine Spielerei, sondern Innenohrprothesen für fast taube Menschen. Sie ermöglichen die Verbindung in eine Welt voller Stimmen, Geräusche und Musik.

Bis vor zwei Jahren hat Peggy Rußat aus Neuruppin in zwei Welten gelebt. Seit ihrer Kindheit war sie hochgradig schwerhörig, mit den Jahren wurde es trotz Hörgeräten immer stiller in ihrem Kopf. «Eine ganz leise Welt war das», erinnert sie sich. Das Telefon erreichte sie dort nicht mehr. Sie hatte auch Angst, etwas Wichtiges falsch zu verstehen; die heraussprudelnden Sätze ihrer sechs Kinder, Zurufe ihres Mannes. «Ich hab mich verkrochen», sagt sie.

Als Peggy Rußat 2007 von Innenohrprothesen - Cochlea-Implantaten oder kurz CI - erfuhr, hat sie nicht gezögert. «Ich wollte unbedingt hören.» Die erfolgreichen Operationen waren das Vorbild für Sohn Christoph, das einzige ihrer Kinder, das auch in der leisen Welt lebte. «Ich habe gestaunt, wie gut meine Mutter mit dem CI gehört hat», sagt der 12-Jährige heute. Da habe ich gedacht, vielleicht klappt das ja auch bei mir.» Es klappte.

Die komplizierte CI-Technik wandelt den Schall bei hörgeschädigten Menschen in elektrische Impulse um und stimuliert so den Hörnerv. Dadurch können auch Menschen Geräusche wahrnehmen, denen ein Hörgerät nichts nützt. Wunder kann ein CI aber nicht vollbringen - manche Träger sind hochzufrieden, andere gar nicht. «Es kommt auf den Einzelfall und die Vorgeschichte an», berichtet Ingo Todt, Ohren-Spezialist am Berliner Unfallkrankenhaus. Wie lange war ein Patient taub? Wie gut hat er sprechen gelernt?

«Anfangs, zu Beginn der 80er Jahre, hat man die Geräte nur stocktauben Erwachsenen eingepflanzt», erläutert Todt. Erst später habe man auch bei Kindern beeindruckende Erfolge erzielt. Viele, die früh ein Implantat erhielten, konnten mit CIs normale Schulen besuchen. Bis heute hat Todt rund 250 Patienten die 22 000 Euro teuren Geräte implantiert, auch Säuglinge sind darunter. Denn rund eines von 1000 Kindern in Deutschland wird taub geboren.

Christoph Rußat bekam sein CI mit 11 Jahren, die Daten der beiden Operationen im Jahr 2008 weiß er auswendig. «Ich verstehe jetzt viel besser, was meine Freunde erzählen», sagt er. Früher hat er von den Lippen abgelesen, an der Schwerhörigenschule in Potsdam lernte er die Gebärdensprache. Doch wer kann in Neuruppin schon Gebärdensprache? In Christophs Leben ist gerade Fußballspielen und Fahrradfahren wichtig, Lego mag er, Bücher und Comics. Doch das reichte ihm nicht. «Ich wollte besser und mehr hören», betont der Junge. Schließlich möchte er Taxifahrer werden - oder Tierpfleger.

Vater Jörg Rußat schmunzelt. Er hört ganz normal. Früher musste er seinem Sohn hinterherlaufen und ins Gesicht schauen, wenn er ihm etwas sagen wollte. Heute kann er auch nach ihm rufen. Rußat kennt die Probleme Gehörloser gut, seine Eltern sind taub. «Gehörlose sind oft misstrauischer, weil sie nicht wissen, über was andere Menschen reden», sagt er. Vielleicht lästern sie ja über Taube. Es sei auch schwieriger, Freunde zu finden. «Heute läuft doch alles über Kommunikation. Nur wer hören kann, kann auch mitreden», urteilt er.

Peggy Rußat möchte die Familien-CIs auf keinen Fall missen. Ihr eigenes hat sie selbst aufgehübscht, damit es schicker aussieht. Zwar hörten sich Stimmen für sie direkt nach der OP an wie das «Gequake von Mickey Maus». Doch dann hat das Gehirn gelernt, die Laute besser einzuordnen. Nur bei vielen Hintergrundgeräuschen muss sie passen - das CI hilft dann, wie viele Hörgeräte, auch nichts mehr.

Rund 80 000 Gehörlose gibt es in Deutschland. Inzwischen tragen 20 000 hörgeschädigte Menschen ein CI. Jedes Jahr kommen bis zu 1500 neu hinzu. Unumstritten sind die Innenohrprothesen nicht. Der Deutsche Gehörlosenbund warnt vor einer «übertriebenen Euphorie». Es gibt Sorgen, dass taube oder hochgradig schwerhörige Menschen zwischen allen Stühlen sitzen. Dass sie nicht mehr zu ihrer stillen Welt samt Gebärdensprache gehören - aber auch nicht ganz zu den Hörenden. Oberarzt Todt betont, dass es nur individuelle Lösungen geben kann. Die Gebärdensprache für CI-Patienten verteufelt er nicht. «Sie ist ein zusätzlicher Weg der Kommunikation», sagt er.

Christoph benutzt Gebärden, um sich mit seinen Großeltern zu unterhalten. Er hätte jetzt auf ein Gymnasium wechseln können oder die Realschule - doch er möchte an seiner Spezialschule bleiben. Die Eltern waren wenig begeistert, doch sie haben ihm seinen Willen gelassen. Und Jörg Rußat ist beim Ausgehen mit seiner CI-Familie inzwischen sehr schlagfertig. Wenn Fremde Frau und Sohn anstarren, sagt er: «Ach, das ist nur die Fernsteuerung.»

Unfallkrankenhaus Berlin: www.ubs-berlin.de

Deutsche Cochlear Implant Gesellschaft e.V.: www.dcig.de