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Forscher: Sehstörungen bei Kindern zu wenig beachtet

Von Helge Toben 10.09.2010, 09:58

Dortmund/dpa. - Wer etwas nicht sehen kann, muss nicht unbedingt schlechte Augen haben. Oft liegt die Ursache im Gehirn. So gibt es zum Beispiel viele Menschen, die Gesichter nicht erkennen können.

Laura ist 16, geht zur Realschule und ist eigentlich eine völlig normale Jugendliche - wäre da nicht ihre ausgeprägte Schwäche im Fach Mathe, vor allem in Geometrie. Warum das so ist, wurde erst jüngst entdeckt: Laura (Name geändert) kann trotz sehr guter Augen keine Linien erkennen. Hält man ihr schwarze Rechtecke auf einer weißen Platte vor, sieht sie nur schwarz, ebenso bei einer weißen Platte mit vielen schwarzen Linien. Grund sind Störungen im Gehirn.

«Schätzungsweise acht von zehn Kindern, die durch Sauerstoffmangel unter der Geburt oder durch einen Unfall motorisch beeinträchtigt sind, haben visuelle Probleme», sagt die Rehabilitationsforscherin Prof. Renate Walthes von der TU Dortmund. Mit dem Thema zerebral bedingter Sehbeeinträchtigungen besonders bei Kindern befasst sich am Freitag und Samstag (10. und 11. September) ein internationaler Kongress an der Hochschule.

Die Symptome sind vielfältig, eine genaue Diagnose zumeist schwierig: Manche Menschen haben Probleme, sich im Raum zu orientieren. Sie finden etwa in einem Gebäude nicht von einem Ort zum anderen. Andere können es nicht vertragen, wenn sie schnelle Bewegungen sehen - etwa die Mundbewegungen beim Sprechen - und schauen lieber weg. In einem Fall fiel eine Frau oft hin - bei ihr wurde Epilepsie diagnostiziert. Es stellte sich jedoch heraus, dass Bewegungen außerhalb ihrer Blickrichtung die Ursache waren: Kleine Schilde an der Brille als «Scheuklappen» brachten Abhilfe.

Mitunter kommt es vor, dass Menschen sich keine Gesichter merken können. Für einige sehen alle Gesichter gleich aus - allenfalls Mann oder Frau und das ungefähre Alter werden noch erkannt. «Wir gehen davon aus, dass zwei von hundert Menschen Gesichtserkennungsstörungen haben», sagt Walthes. «Im Extremfall können die Menschen ihr eigenes Bild im Spiegel nicht erkennen», sagt der Psychologe Prof. Claus-Christian Carbon von der Universität Bamberg.

Die Auswirkungen solcher Störungen können immens sein. Guckt etwa ein Kind immer weg, wenn es mit einem spricht, kann schnell Autismus vermutet werden. «Wenn Kinder die sozialen Regeln und Erwartungen ihrer Umwelt nicht erfüllen, wird dies selten auf visuelle Probleme zurückgeführt», sagt Walthes. «Unter Umständen kann aus den Auffälligkeiten eine falsche Diagnose resultieren, die das Leben des Kindes maßgeblich bestimmt und Chancen verbaut.»

Wie weit verbreitet diese Störungen genau sind, ist unklar. Eine niederländische Studie geht davon aus, dass etwa 30 bis 40 Prozent der Kinder an Förderschulen für geistig Behinderte unerkannte Sehprobleme haben. Eine Untersuchung von Walthes an einer Förderschule für Körperbehinderte in Bochum bestätigte diese hohen Zahlen: Die Forscher stellten bei mehr als 55 Prozent der Schüler von vier Eingangsklassen zerebral bedingte Sehstörungen fest. Nur bei wenigen von ihnen waren diese Störungen bereits vorher bekannt.

Mit der Tagung wollen die Dortmunder Forscher um Walthes nun ein Projekt starten, bei dem das Thema von mehreren Fachrichtungen untersucht wird, etwa von Augenärzten, Neurologen und Neuropsychologen. «Wir wissen noch zu wenig darüber, was die Schädigung eines visuellen Bereichs für die Entwicklung des Gehirns bedeutet», erklärt Walthes.

Gab es bislang vor allem Studien mit Erwachsenen, sind nun weitere Einzelfallstudien vor allem mit Kindern und Jugendlichen geplant. Solche mit Lern- und Verhaltensproblemen sollen dabei auf zerebral bedingte Sehbeeinträchtigungen untersucht werden. «Werden diese festgestellt, entwickelt das Team gemeinsam mit den Familien und den Fachleuten vor Ort alternative Strategien für Kommunikation, Lernen und Orientierung.» Umfangreichere Studien sollen sich anschließen. Ziel des von der Heidehof-Stiftung in Stuttgart geförderten Projekts ist der Aufbau eines Kompetenzzentrums «Sehen, Wahrnehmen, Lernen verstehen».